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Mein Überleben

von Assia Gorban, geb. Klurfeld. Stolperworte-Lesung am 29. September 2022 in Berlin. Autorisierte Schriftfassung Boris Schumatsky

Ich heiße Assia Gorban, ich bin am 14. August 1933 in der Stadt Mogiljew Podolski in der Ukraine geboren. Es waren sehr schwierige Zeiten in der Sowjetunion, aber die schlimmste Zeit begann am 22. Juni 1941. Mein Bruder und ich saßen am Fenster und warteten, dass Mutti vom Markt kommt, sie sollte uns etwas zu essen bringen. Plötzlich hörten wir im Radio, das wie ein schwarzer Teller aussah, dass der Krieg zu uns ins Land gekommen ist. Es war die schlimmste Zeit, wie wir später verstanden haben. Im Juli 1941 kamen deutsche Soldaten, ich erinnere mich sehr gut an ihre Motorräder, an ihre weißen Kragen, an ihre hochgekrempelten Ärmel. Sie haben gelacht, sie waren so gut gebaut und noch so jung. Wir schauten zu, diese schönen Männer! Und dann kamen rumänische Soldaten, so ärmlich angezogen, mit ihren unordentlichen Uniformen. Die Deutschen sind bei uns nur durchgefahren, die rumänischen Soldaten sind geblieben, und der Kommandant in der Stadt war auch ein rumänischer Offizier.

Ghetto am Leninplatz

Einen Monat oder zwei Monate später brachte das Radio den Befehl, alle Juden unserer Stadt sollten auf den Platz kommen, der den Namen Lenins trug, den Leninplatz. Wir kamen hin. Wir sollten alles mitnehmen, was man zum Leben brauchte, so hatten wir es verstanden. Wir nahmen mit, was wir hatten, aber wir waren sehr arm, wir hatten fast nichts. Das brachten wir zu diesem Platz. Als wir dort standen, wurde um den ganzen Platz herum Stacheldraht aufgespannt, und wir durften keinen Schritt raus machen, nicht zum Markt, nicht in den Laden. Ob in der Sonne oder im Regen, wir blieben auf diesem Platz, ein paar Monate lang.

Aber meine Mutter, das versteh ich jetzt, war eine Heldin. Sie setzte ein Kopftuch auf, denn wir waren keine Juden mit langen Nasen, mit schwarzen Haaren, wie man Juden eben malt. Wir sahen aus wie die ukrainischen Menschen, die Mutter mit dem Kopftuch und ich. Sie schlüpfte unter dem Stacheldraht, allein oder mit mir zusammen, und wir gingen auf den Markt. Nie ist uns etwas passiert. Wir tauschten das, was wir noch hatten, ein Stück Seife gegen Kartoffeln oder Brot. So lebten wir zwei oder drei Monate dort, dann hörten wir wieder einen Befehl im Radio: „Achtung, Achtung!“, dieses Wort kann ich bis heute nicht hören, und das Wort „Jawohl!“ auch nicht. Diese beiden Wörter! Dann sagte das Radio, wir sollten alle zum Hauptbahnhof gehen. Es waren zwei Kilometer zu Fuß, und als wir dort angekommen sind, brachte man uns zu einer offenen Bühne, wir sollten uns einreihen. Unten warteten schon ein deutscher Offizier, ein rumänischer Offizier und eine Dolmetscherin auf uns, eine Russin, die sehr gut Deutsch konnte.

Abtransport

Wer Gold, Silber, Wertgegenstände habe, befahl der deutsche Offizier, soll sie zu seinem Tisch bringen. Meine Mutti trug einen Ring, wie alle Frauen damals. Diesen Ring hatte ihr ihre Mutter gegeben, also sagte sie, „Nein, ich gebe ihn nicht weg“. Sie flocht den Ring in ihren großen Zopf, steckte ihn wieder hoch und sagte: „Sei jetzt still, sie haben gar nichts gesehen. Wir saßen also da, in starker Julisonne, nein, es war wahrscheinlich schon August, und wir warteten. Hitze, nichts zu trinken, kein Essen. Dann kam ein Zug, aber kein normaler Passagierzug, ein Zug für Tiere, mit kleinen schmalen Fenstern oben, mit einer Tür, breit wie ein Tor, auf jeder Seite. Man öffnete es auf unserer Seite, befahl, „Schnell! In die Waggons!“. Also stiegen wir ein, und das Gepäck, das wir noch dabei hatten, stellten wir ab an der gegenüberliegenden Wagenseite, wo sonst? Der Zug fuhr los.

Sitzen konnten wir nicht. Es gab keine Bänke, wir mussten stehen, eng wie Heringe im Fass, einer dicht am anderen, Alte, Kranke, Verstorbene. Es gab zwei oder drei Tote in unserem Waggon. Sie waren gleich am Anfang gestorben, wahrscheinlich an Herzinfarkt, sie waren ja alt und krank. So fuhren wir zwei, drei Stunden, dann blieb der Zug plötzlich stehen. Wir warteten still, wir wussten nicht, was jetzt noch auf uns zukommt. Plötzlich gehen die Türen auf, aber die auf der Seite, wo all unsere Sachen lagen. Sie fallen herunter auf den Boden, und dort sehen wir Soldaten stehen. Es waren rumänische Soldaten mit Hunden, sie verboten uns, unsere Sachen zu holen, „Zurück! In die Waggons!“ Zwei, drei Leute, die ihre Sachen zurück holen wollten, wurden geschlagen. Das passierte dreimal hintereinander.

KZ Petschora

Wir waren nun, das hat mir mein Vater später erzählt, 120 Kilometer von unserer Stadt entfernt. Man brachte uns ins KZ Petschora, unweit von Winniza, wo sich Hitler in der Nähe einen Bunker bauen lassen hatte. Das KZ wurde in einem ehemaligen Sanatorium untergebracht, wir aber wurden in den Pferdeställen untergebracht, die zur Anlage gehörten. Dort sollten wir leben. Es gab keine richtigen Betten, sie waren niedrig und schmal, eins dicht neben dem anderen, Matratzen mit Streu, Kissen mit Streu, oben drauf etwas, was wir als Decken nutzen sollten, und für den ganzen Raum – es war ein großer Stall – nur zwei, drei kleine Glühbirnen.

Aus unserer Familie war mein Opa dort, meine Oma und meine Tante, die aus Moskau gekommen war und im Juni ein Kind bekommen hatte. Dann meine andere Tante mit drei Kindern und unsere Kleinfamilie, mein Vater, der krank war und deswegen nicht an die Front geschickt worden war, meine Mutter, ich und mein Bruder. Meine Mutter wusste schon, was uns erwartete. Als wir durch das Tor gegangen waren, hatten wir Menschen gesehen, die ein oder zwei Monate dort gewesen waren. Kinder mit großen Bäuchen und gelber Haut, Männer und Frauen, die zu uns gesagt hatten, „Schaut euch uns an, so werdet ihr sein“. Meine Mutter sagte, nachdem wir unsere sogenannten Betten zugeteilt bekommen hatten: „Nein, hier bleibe ich nicht. Ich nehme meine Kinder und wir fliehen.“

Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, zwei oder drei Wochen, vielleicht ein Monat, dann ging meine Mutter zum Tor, wo die Wache war, es waren rumänische Soldaten und ukrainische Polizisten, die zehnmal schlimmer waren als die Deutschen und Rumänen zusammen. Es waren Banditen, uns Juden konnten sie sich nicht ruhig ansehen, „nur tote Juden sind gute Juden“, haben sie zu uns gesagt. Meine Mutti ging hin, und ich weiß nicht, mit wen sie dort gesprochen hat, was sie gesagt hat, aber ich weiß, was sie ihm gab. Wir hatten noch 100 Okkupationsmark, die sie in mein Kleid, in den Kragen eingenäht hatte. Vielleicht hat meine Mutter etwas davon den ukrainischen Polizisten gegeben, oder den rumänischen, oder beiden zusammen. Dann kam sie zurück und sagte, sie kann jetzt weg von hier, sie selbst und die Kinder. Diese Kinder waren ich und mein Bruder, aber mein Vater sagte, nein. „Mach was du willst, das Kind gebe ich nicht hin.“ Er war der einzige Junge in unserer Familie, der den Namen Klurfeld weitergeben konnte. Alle Töchter meiner Oma hatten Mädchen, er war also der Einzige. Mein Vater nahm ihn bei der Hand und sagte: „Nein, ihn gebe ich nicht hin, aber Assia kannst du nehmen.“

Der Junge mit den Gänsen

Meine Tante, die drei Kinder hatte, hatte eine Tochter, die auch Assia hieß. Sie sagte zu meiner Mutter: „Ethja, bitte nimm meine Assia, sie soll am Leben bleiben. Meine Mutter hatte schon einen Tag ausgesucht, und an diesem Tag, als es schon dunkel war, gingen wir zur Wache. Da war ein Soldat und ein Polizist, sie öffneten das Tor und wir waren draußen. Der Weg war sehr schmal, wie dieser hier, sehr schmal, und es war nicht weit bis zum Wald. Mama sagte: „Lauft durch, dann sind wir gerettet“. Wir liefen los, und rechts von uns sahen wir einen Jungen, der Gänse aus dem Feld trieb. Er sah uns auch, Mutter und zwei Kinder, wie wir rannten, und lief direkt auf die Wache zu. Aber da wurde die Wache gewechselt, ein anderer Soldat war da, ein anderer Polizist, ich weiß noch seinen Namen, Smetanskij. Das war ein Mörder. Der rumänische Soldat war ganz anders, wie wir später verstanden haben. Sie rannten los und fanden uns sofort, zwei Kinder, eine Frau. Wie sie uns geschlagen haben! Assia die Zweite war blau, meine Mama war blau, mich haben sie nicht so hart geschlagen. Sie brachten uns zurück und sagten: „Morgen werdet ihr gehängt, damit es euch niemand nachmacht“. Neben dem Tor war eine Kammer, in der sich die Wachen ausruhten. Dort sperrten sie uns ein und sagten, morgen früh würden sie uns hängen.

Mutter öffnete meinen Kragen, in dem unser letztes Geld versteckt war, und holte es heraus. Das Fenster der Kammer war vergittert wie in einem Gefängnis, und sie steckte den Geldschein so heraus, dass ein Soldat ihn sehen konnte. Es war ein rumänischer Soldat. Wir haben damals gesagt, die rumänischen Soldaten sind wie Zigeuner, egal was man ihnen gibt, sie nehmen alles. Der Soldat sah die Ecke des Geldscheins, den meine Mutter ihm zeigte, und nahm ihn. Er öffnete die Tür. Wir konnten dorthin, wo unsere Familie war. Assia die Zweite, die Kleine, hat zwei Wochen nicht gesprochen, sie hat ihre Sprache verloren, sie war blauschwarz. Sie lag flach. Meine Mutter war genauso geschlagen, aber sie legte sich nicht hin, sondern sagte: „Ich mache es trotzdem noch einmal“.

Die Lagermauer

Die Zeit verging, ich weiß nicht wie viel Zeit. Das Leben im KZ, das Essen… wir bekamen nichts zu essen. Wir durften auch nicht arbeiten, wir durften nur sterben. Das Lager hieß auch so, Todeslager. Was haben wir dort gegessen? Die Mauer war hoch. Aber wenn man einen Stein auf den anderen gelegt hat, konnte man drüber schauen und sogar etwas bekommen. Wenn man essen will, isst man, was man kriegen kann, so sind wir Menschen. Wir haben unsere Schuhe über die Mauer geworfen, oder nur die Schuhsohlen, wir hatten eigentlich nur noch eine Schuhsohle, eine gute Ledersohle, die haben wir über die Mauer geworfen, wir haben Seife über die Mauer geworfen, und von dort kam Milch oder Brot oder sonst etwas zu essen. Die ukrainischen Männer und Frauen aus dem Dorf kamen an die Mauer und wir tauschten. Einmal sah ich etwas, das ich nie vergessen werde. Wir Kinder standen unter der Mauer und warteten, ob vielleicht etwas von der Mauer fallen würde, etwas zu essen. Ein Junge legte einen Stein auf den anderen, dann noch einen, dann noch einen, dann sahen wir, dass von draußen etwas gereicht wurde, es war ein Eimer, plötzlich stand ein Metalleimer auf der Mauer. Der Junge konnte sich schon oben an der Mauer festhalten, er wollte nach dem Eimer greifen, da hörten wir einen Schuss. Der Junge fiel hinunter. Wir sahen Blut auf dem Boden. Alles, was im Eimer war, fiel heraus, Kirschen oder Pflaumen, ich weiß es nicht mehr. Sie vermischten sich mit dem Blut. Später habe ich in einem Artikel im Internet gelesen, dass es Kirschen waren, aber vielleicht waren es auch Pflaumen, denn es war schon spät für Kirschen, es war schon Herbst. Niemand hat etwas mitgenommen, alle haben sich ferngehalten, es war zu gefährlich. Dieses Bild macht mich so traurig, bis heute.

Was wir Kinder gegessen haben. Im Lager gab es, wie gesagt, die Wache, die Soldaten, die Polizei, die haben viel gearbeitet und mussten etwas essen. Es gab eine Kantine, wo für sie gekocht wurde, und da gab es Essensreste. Kartoffelschalen und andere Schalen wurden gleich dort weggeworfen. Wir haben gewartet, bis der Koch oder die Köchin weg war, dann sind wir schnell dorthin gelaufen und haben alles eingesammelt. Die Kartoffelschalen waren uns besonders wichtig. Wir haben sie in eine Schüssel getan, ich weiß nicht mehr woher, aber wir mussten eine Schüssel haben, mit der wir dann zum Bug gelaufen sind. Im Fluss haben wir alles gewaschen und dann haben wir ein kleines Feuer gemacht. Im Feuer ging die dünne Schale ab und es blieb ein bisschen Kartoffel übrig. So haben wir uns sozusagen von den Abfällen ernährt, von den Resten, und manchmal haben wir sogar ein Stück Fleisch gesehen, ein Stück Brot. So haben wir gelebt.

Meine Mutti, die so schwarz geworden war, wurde wieder normal und sagte zu meinem Vater: „Weißt du, ich bin diese Woche immer zum Fluss gegangen, um eine Stelle zu suchen, wo Assia hinübergehen kann“. Die Mauer war sehr dick und reichte weit ins Wasser hinein, also suchte meine Mutter eine Stelle, die für meine kurzen Beine nicht zu tief war. „Und ich habe sie gefunden“, sagte sie, „ich nehme Assia mit.“ – Meine Assia“, sagte die Tante, „gebe ich nicht her, ich habe Angst“.

Wald, Sumpf, Gräber

Wir gingen hinaus, als es Abend wurde, oder es war schon Nacht. Dort, wo die Mauer schon im Wasser stand, hatte meine Mutter eine Treppe gefunden, die in die Mauer eingelassen war. Wir stiegen hinauf und waren im Trockenen. Sehr schnell waren wir im Wald. Meine Mutter sagte: „Lass uns nicht nebeneinander gehen, lass etwas Abstand zwischen uns und lass uns dorthin gehen, wo die Büsche uns bis zum Kopf verstecken. Und sei leise. Ich lief also hinter meiner Mutter her, drei, vielleicht vier Meter, und versuchte, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Plötzlich spürte ich, wie meine Füße nachgaben, ich konnte nicht mehr weiterlaufen, ich verstand nicht, was los war. Es war ein Sumpf. Ich sank bis zu den Knien. Mutter drehte sich um und fragte: „Assia, warum stehst du?“ – „Ich stehe nicht, ich kann nicht gehen.“ – „Ach, ich weiß, was wir tun müssen“, sagte meine Mutter, „ich schreie, dass uns jemand rettet!“ – „Wenn du schreist, kommen sie und holen uns.“ – „Nein, sie werden uns nicht holen“, und sie begann auf Ukrainisch zu schreien, dass uns jemand helfen solle.

Plötzlich hörten wir: „Pst, pst“, und wir hörten jemanden kommen. Es war ein Mann, ein Jude. Er hieß Dachowskij, er war Mathematiklehrer, das hatten wir nach dem Krieg erfahren. „Was schreien Sie“, sagte er, „was fällt Ihnen ein? Sie werden gleich hier sein.“ Ein Stück weiter sahen wir drei andere Männer warten. Er sagte zu ihnen: „Hier ist eine Katastrophe passiert.“ Er meinte den Sumpf. Sie bauten aus dünnen Bäumen Schienen und zogen mich aus dem Sumpf, zwei Männer auf jeder Seite. Aber ich konnte nicht stehen. Meine Beine waren voller Blutegel, sie hatten sich schon vollgesaugt. Und ich hatte so wenig gegessen und getrunken. Ich hatte einfach keine Kraft mehr, nachdem sie so viel Blut gesaugt hatten. „Keine Sorge“, sagten die Männer, einer hielt meine Beine, der andere meinen Körper, ich war ja nicht schwer, ich war acht Jahre alt, und so trugen sie mich. Sie wechselten sich ab, bis Dachowskij sagte: „So, hier verlasse ich Sie. Das Kind kann wieder laufen, alles ist in Ordnung. Wir gehen in diese Richtung, Sie gehen in diese Richtung, dort sind gute Dörfer. Sie sehen nicht jüdisch aus, und die Leute werden Ihnen sicher etwas zu essen geben, sie werden Sie dort auch übernachten lassen.“ Und die Mutter sagte: „Gut, so machen wir es.“

Also gingen meine Mutter und ich allein weiter. Am besten war es, wenn wir unterwegs einen Friedhof sahen. Denn wenn die Ukrainer zu den Gräbern kommen, bringen sie immer Essen mit, und die Russen auch. Sie bleiben eine Weile dort, reden miteinander, essen und trinken, und was übrig bleibt, muss dort auf den Grabsteinen bleiben. Das war genau das, was wir brauchten. Nachts liefen wir, aber tagsüber mussten wir uns verstecken, damit uns niemand sah. Die Friedhöfe waren dafür am besten geeignet. Die Steine waren hoch, manchmal gab es Bäume, und es gab auch etwas zu essen. Die Bauern, besonders die ukrainischen Frauen, waren sehr gut zu uns. Sie gaben uns zu essen, sie ließen uns manchmal in ihren Häusern übernachten, manchmal drei oder sogar vier Tage. So kamen wir in unsere Stadt, nach Mogiljew Podolski.

Mogila heißt Grab

„Mogila“ bedeutet auf Russisch und Ukrainisch Grab. Wie ein Grab ist unsere Stadt von vier Seiten von Bergen umgeben. Sie sind nicht hoch, aber es sind Berge. Wir stehen also auf einem Berg über der Stadt, wir sehen unser Haus, wir sehen alles, alles, was uns vertraut ist. Meine Mutter sagt: „Endlich sind wir zu Hause“. Plötzlich sehen wir zwei rumänische Soldaten. Sie haben Gewehre um den Hals und wir hören, wie sie miteinander reden. „Oh, wir sind angekommen“, sagt Mama, „und die rumänischen Soldaten machen uns gleich kaputt. Mach es mir nach.“ Sie zieht ihren Rock über den Kopf und setzt sich auf den Boden, als wolle sie aufs Klo gehen. Ich mache, was sie sagt, Rock über den Kopf, hinsetzen. Die Soldaten kommen zu uns und wir wissen nicht, was sie jetzt machen. Sie haben ihre Gewehre abgenommen und mit den Läufen haben sie uns einmal auf den Hintern getippt, der Mutter und auch mir. Sie haben so gelacht, und dann waren sie weg. Wir saßen noch fünf oder zehn Minuten da, bis sie weg waren, dann gingen wir nach Hause.

Wir hatten ein Häuschen, sehr klein, ein Zimmer, eine Küche, sonst nichts. Ein ukrainischer Polizist hat es uns weggenommen. Als wir dort ankamen, als wir am Tor standen, sagte er, als er uns sah: „Wenn Sie wollen, gehe ich und Sie bleiben“, er war ein guter Mann. Ein Polizist, aber ein guter. „Nein, nein, das können wir nicht machen“, sagte meine Mutter, „wir gehen woanders hin, wir haben was, wo wir wohnen können“.

Meine Oma und mein Opa hatten ein großes Haus, zwei Haushälften. Da gehen wir hin und sehen, da wohnen rumänische Juden. Die hießen Reinisch. Vater, Mutter und ein Sohn, so alt wie ich, vielleicht ein Jahr älter. Sie hatten eine Metzgerei und lieferten Fleisch an die rumänisch-deutsche Kommandantur. Sie lebten sehr gut.

Wir kommen dort an, ungewaschen, voller Pickel von dem Leben, das wir in den letzten Tagen geführt haben, und da sagt Frau Reinisch zu uns: „Nein, nein, nein, so jemand kommt nicht in mein Haus, nicht solche Leute wie Sie“. – „Das Haus gehört meiner Schwiegermutter“, sagt Mutti, „wir brauchen nur ein Zimmer, vielleicht zwei, und in dem Haus sind acht Zimmer“. – „Nein, nein. Nur da, wo die Kuh steht, da können Sie wohnen“.

Da sind wir hingegangen. Sie hatten eine Metzgerei, und alles, was weggeworfen wurde, Gedärme, dies und das, haben wir gesammelt, sind zum Fluss gegangen, haben es gewaschen und gegessen.

Die Aktion

Nun, wir lebten hier, aber unsere Familie war dort geblieben, und jeden Tag warteten wir darauf, wann die Unsrigen kommen würden. Aber dort, so erzählte uns jemand, hatte es eine Aktion gegeben. Später erzählte mir mein Vater, dass ein deutscher Offizier mit drei überdachten Lastwagen gekommen sei, und der Offizier habe befohlen: „Die Männer auf die eine Seite, die Frauen auf die andere. Die Kinder sollten bei den Frauen bleiben. Mein Vater hatte aber ein Kind dabei, das an ihm wie angewachsen klebte. Mein Großvater, der damals sechzig Jahre alt war, ein schöner Mann, groß, schöne Hände, schöner Bart, sagte zu meinem Vater: „Bleib stehen, hab keine Angst“. Er sagte das, weil er im Ersten Weltkrieg in Deutschland gewesen war, zwei Jahre in Gefangenschaft, und er verstand sehr gut Deutsch. Er konnte nicht gut sprechen, aber er hat alles verstanden. Der deutsche Offizier sagte: „Wem ich jetzt die Hand auf die Schulter lege, der geht drei Schritte vor“. Als er bei meinem Vater war, legte er ihm die Hand auf die Schulter. Er ging an meinem Opa vorbei, aber der sagte auf Deutsch, so gut er konnte: „Mein Sohn ist krank im Kopf. Schau, wie ich bin! Ich bin stark, ich kann arbeiten.“ – „Gut“, sagte der Offizier, „drei Schritte vorwärts. Dann mussten alle, die drei Schritte gemacht hatten, in die Autos einsteigen.

Als er bei meinem Vater war, legte er ihm die Hand auf die Schulter. Er ging an meinem Opa vorbei, aber der sagte auf Deutsch, so gut er konnte: „Mein Sohn ist krank im Kopf. Schau, wie ich bin! Ich bin stark, ich kann arbeiten.“ – „Gut“, sagte der Offizier, „drei Schritte vorwärts. Dann mussten alle, die drei Schritte gemacht hatten, in die Autos einsteigen.

Aber bevor sie abfuhren, kam der rumänische Lagerkommandant zu dem deutschen Offizier und fragte ihn: „Warum hast du mich nicht gefragt?“ Mein Vater verstand das, aber er verstand nicht, was der Deutsche antwortete. Dann fuhren die Autos weg. Der rumänische Kommandant sagte: „Alle, die geblieben sind, können jetzt gehen. Gehen Sie, wohin Sie wollen und tun Sie, was Sie wollen“. Eine Woche später war unsere ganze Familie wieder vereint und niemand versuchte, uns zu verhaften. Nur mein Opa blieb zurück.

Später erzählte man uns, dass in dem Dorf, in dem die Autos angekommen waren, ein großer Graben entdeckt worden war. Darin lagen Leute, die ihn ausgehoben hatten. Auch Opa lag darin.

Die Rosenthal-Terrine

So haben wir unseren Opa verloren, und zwei Söhne meiner Oma sind an der Front gefallen. Zwei andere kamen zurück, aber sie waren krank, nach all dem, was sie an der Front erlebt hatten. Sie sind auch gestorben, sehr schnell. Im März 1944 sind wir befreit worden. Da war ich meiner Mutter schon sehr ähnlich. Es wurde überall geschossen, der Krieg ging weiter, und ich sah Feuer dort, wo meine Schule war, in die ich vor dem Krieg in die erste Klasse gegangen war. Also nehme ich meinen vier Jahre jüngeren Bruder an der Hand und sage: „Schau, meine Schule brennt, komm schnell“, und er läuft mit mir. Als wir in der Schule ankamen, war dort ein Lazarett für verwundete deutsche Soldaten. Ich sah in den Zimmern verbrannte Betten, auf denen verbrannte Menschen lagen. Das kann ich nicht vergessen. „Schau nicht hin“, sage ich zu meinem Bruder, „lass uns weitergehen, dort war unsere Kantine, vielleicht finden wir dort etwas zu essen, das wir mit nach Hause nehmen können“. Wir gehen weiter und sehen einen Pappkübel, gelb, auf dem Boden liegt noch etwas Zucker. Daneben eine Tüte, leer, aber noch etwas Mehl drin. Das habe ich alles genommen und plötzlich habe ich etwas anderes gesehen, was ich vor dem Krieg in der Sowjetunion nie gesehen habe. Das habe ich in den Kübel getan und dann sind wir nach Hause gelaufen.

Meine Mutter hat mich mit einer Ohrfeige begrüßt: „Was hast du getan?! Überall wird geschossen und du gehst hin, sogar mit dem Kind! Ich dachte, du wärst tot.“ – „Schrei nicht so und schlag mich nicht, ich habe Essen mitgebracht“, und ich zeigte ihr, was ich dabei hatte. Das haben wir immer noch. Als mein Bruder nach Israel auswanderte, nahm er den Ring meiner Mutter mit, den sie in ihrem Zopf versteckt hatte. „Und du“, sagte er damals zu mir, „wenn du nach Deutschland gehst, nimm die Rosenthal-Terrine mit. Ich möchte sie einem Museum schenken, falls sich jemand dafür interessiert. Wenn nicht, bleibt sie bei mir.

Zur Lesung von Assia Gorban und Alexandu Bulucz

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