Der Tagesspiegel 05.10.2021. Foto: Doris Spiekermann-Klaas

Wenn am Stolperstein gedichtet wird

Der Tagesspiegel 05.10.2021

Bei einem Projekt sollen Schriftsteller zeigen, was die NS-Vergangenheit für sie persönlich bedeutet.

von Elisabeth Binder

Der Dichter steht mitten im Feierabendverkehr eines Berliner Spätsommerabends. Vespas rauschen zwischen Abschleppwagen und Bussen die Reinhardstraße runter, Passanten streben, bepackt mit Laptoptaschen und Einkaufstüten, dem Feierabend entgegen.

Das Haus Albrechtstraße 24 steht nicht mehr, keiner der Anwesenden weiß wie lange nicht mehr. Aber den Ort gibt es natürlich noch, und er ist gekennzeichnet durch einen Stolperstein, der an Ella Karma erinnert. Zum Stolperstein gibt es an diesem Abend „Stolperworte“, Gedichte des Autors Tom Schulz, die er vorliest aus seinem Band „Die Verlegung der Stolpersteine“.

Es ist die zweite Lesung dieser Art. Initiiert wurde die Aktion von dem Autor Boris Schumatsky, einem gebürtigen Russen, der schon lange in Berlin lebt. Ihn treibt die Frage um, wie man Erinnerung aktiviert und lebendig hält. Die Schriftsteller, so seine Idee hinter dem Projekt, sollen erforschen, was die NS-Vergangenheit für sie persönlich bedeutet. Eine Frage, die immer aktueller wird, je mehr Zeitzeugen versterben. Bis November sind noch Lesungen an wechselnden Stolpersteinen mit unterschiedlichen Autoren geplant.

Autor Tom Schulz, aufgewachsen in der DDR, hat sich schon früh mit dem Holocaust beschäftigt, ist auf Spurensuche nach jüdischer Geschichte gegangen, ist nach Polen gereist, in die Ukraine. Es hat ihn gestört, dass dieses Thema in seinem Teil Deutschlands eher verdrängt wurde. Wie auch Boris Schumatsky findet er, dass die letzten Wahlen noch einmal offensichtlich gemacht haben, wie akut das Thema ist, wie wichtig es ist, dem Antisemitismus etwas entgegenzusetzen.

Ein Dutzend Zuhörer nur hat sich versammelt, die meisten sitzen auf einem Mauervorsprung. Boris Schumatsky rückt die Videokamera zurecht. Er will die Lesung später auf seine Webseite stolperworte.de stellen. Mithilfe der Literatur will er die Stolpersteine im urbanen Alltag präsenter machen, will sie gewissermaßen zum Leben erwecken. Gefördert wird das Projekt unter anderem von Draußenstadt (draussenstadt.de) und der Kulturverwaltung.

Vor der Lesung haben die Zuhörer Gelegenheit, sich vorzustellen, wie Ella Karma sich gefühlt haben muss an diesem Ort. Geboren als Ella Friedländer 1886 in Rixdorf, dem Teil Berlins, der damals für „Musike“ und andere Unterhaltung berühmt war, wurde sie zunächst Schauspielerin. Ihr Spezialfach war die sentimentale Liebhaberin. Später nach der Scheidung von Josef Karma war sie Agentin für Schauspieler und leitete ein Ballett, das im Café Fandango auftrat.

Die Befreiung durch die Rote Armee erlebte sie noch

Vier Jahre lebte sie in der Albrechtstraße, bis sie im November 1938 als Untermieterin zu ihrer Freundin und deren Mann nach Friedenau ziehen musste. Später leitete sie eine Reformküche für bedürftige Berliner, tauchte dann unter und wurde bei einem Fluchtversuch in die Schweiz gefasst. Im Juni 1944 wurde sie nach Auschwitz deportiert. Die Befreiung des Lagers durch die Rote Armee erlebte sie noch, starb allerdings wenig später an Lungentuberkulose.

Sprachfetzen umwehen die zufälligen Passanten, jemand fotografiert. „Ich höre deine Stimme von fern“, „An dieser Stelle wächst ein Stein aus dem Boden“, „Wie viele Sommer gehören den Lebenden…?“.

Den Schlusspunkt setzt Tom Schulz mit seinem Gedicht „Erster Stolperstein“. Das geht so: „Der siebte Tag schöpfte das Wasser/ der sechste setzte Seerosen, Algen und Schilf hinein/ als der fünfte in die Binsen ging/ war der vierte am Leben, ein zappelnder Barsch/ der dritte wusste nicht, was nach oben gelangte/er rief den zweiten zu sich, der das Fließen lehrte/ der erste war einzig allein/ der Grund“.

Es gibt noch ein kleines Gespräch, in dem die Großmutter des Dichters eine Rolle spielt, die mit seiner Mutter ausgerechnet in jener Nacht nach Dresden wollte, als die Stadt bombardiert wurde und in Flammen aufging. Sie hörte dann auf eine Wahrsagerin, die ihr abriet, dorthin zu gehen. Ein Schlusswort gibt es nicht, als die Lesung nach einer guten halben Stunde endet. Kann es, darf es nicht geben. Da sind sich die Anwesenden einig. Das Erinnern soll ja immer weiter gehen.


Am Dienstag (5.10.) liest Kathrin Bach um 18 Uhr in der Fehrbelliner Straße 81 in Mitte am Stolperstein für Abraham, Ruth und Thea Fuss. Infos über die nächsten Lesungen unter stolperworte.de

Der Tagesspiegel 05.10.2021

Anmelden