Autorinnen und Autoren lesen an Berliner Stolpersteinen – also neben Messingtafeln im Gehweg, die an frühere jüdische Bewohner erinnern: Das Projekt „Stolperworte“ des Schriftstellers Boris Schumatsky soll die Erinnerung an die NS-Zeit wachhalten.
Von Anja Nehls
Der Schriftsteller Boris Schumatsky steht vor einem fünfstöckigen Altbau in Berlin-Mitte. Die Stolpersteine vor seinen Füßen – sechs unauffällig in den Gehweg eingelassene Messingtafeln, die an die jüdische Familie Blaukopf erinnern – sind wegen der vielen Herbstblätter kaum zu sehen. Das Schicksal der Familie Blaukopf und aller anderen in der Nazizeit ermordeten Juden soll aber nicht vergessen werden, findet Schumatsky. Deshalb initiiert er mit dem Projekt Stolperworte kurze Autorenlesungen an ausgewählten Stolpersteinen in Berlin:
„Das hat mit dem jedes Jahr stärker werdenden Gefühl angefangen, dass die Erinnerung stirbt. Und die Bedeutung dieser Erinnerung schwindet auch, was ich ziemlich unerträglich finde. Also die Idee war, diese Erinnerung mit Hilfe der Literatur zu retten.“
Im Internet, durch Mund-zu-Mund-Propaganda und durch Aushänge sind Menschen auf die Aktion aufmerksam worden – ein gutes Dutzend an diesem Abend. Morgan Robinson zum Beispiel. Sie wohnt im gleichen Haus wie einst die Blaukopfs.
„Ich habe die Zettel gesehen und dachte, ich will das hören, ja – und ich liebe, in Deutschland zu wohnen, und ich will ein Teil dieser Gesellschaft werden. Ich studiere Geschichte, also ist es für mich sehr interessant.“
Papa weint an der Reling
Um Geschichte soll es gehen, um Literatur und die Verbindung aus beidem. Nicht unbedingt um die Geschichte der Blaukopfs, aber um Geschichten, die sich literarisch mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzen. Boris Schumatsky hat über das Schicksal seiner eigenen Moskauer Familie geschrieben. Als 1941 im Zweiten Weltkrieg die Deutschen kurz vor der Stadt standen, konnte sein Vater als vierjähriger kleiner Junge fliehen.
„Mein Vater, der nicht mein Vater ist, er ist erst vier, steht an der Reling eines Passagierschiffes und weint. Ein Windstoß hat ihm gerade die Mütze vom Kopf gerissen und über Bord geworfen. (…) Er hat nicht geweint, als seine Mutter, meine Oma Nora, ihn zum Flussbahnhof gebracht hat und winkend am Pier zurückblieb. Papa dachte, er fährt wie im letzten Jahr ins Sommerlager. Nora wusste, dieses Jahr ist anders. Dieses Jahr ist anders, weil Krieg ist.“
Bezug zur NS-Zeit ist ein Muss
Acht Autorinnen und Autoren haben an ausgewählten Stolpersteinen gelesen. Die kleinen Veranstaltungen werden gefilmt und online gestellt, erklärt Lena Scheitz, die die Aktion mitorganisiert hat.
Es habe Prosatexte gegeben, Essays, aber auch Lyrik. Eine Vorgabe gibt es nicht – aber: „Man sollte schon einen Bezug haben zur Erinnerung oder NS-Zeit. Es muss sich gar nicht explizit auf die Opfer der jeweiligen Steine beziehen, es kann auch allgemein sich damit auseinandersetzen.“
Denn über die Menschen hinter den Namen auf den Stolpersteinen ist häufig nicht viel bekannt. Das sei schade, meint Boris Schumatsky. Hier auf der Straße kreist jetzt die Kopie eines alten Fotos. Darauf ist ein kleines Ladengeschäft abgebildet, das von Familie Blaukopf an dieser Stelle betrieben wurde. Eine Nachbarin hat es mitgebracht und beginnt spontan zu erzählen. 2016 seien die Nachfahren der Blaukopfs zur Verlegung der Stolpersteine extra aus Tel Aviv gekommen und hätten ein wenig über ihre Großeltern berichtet.
„Und zwar Berko und Ida Blaukopf betrieben hier eine erfolgreiche Eier- und Butterhandlung, bis sie 1933 das Geschäft aufgeben mussten und in die Potsdamer Straße zogen. Den erwachsenen Kindern gelang noch rechtzeitig die Ausreise nach Palästina, die Eltern, also Ida und Berko, und das Nesthäkchen Cilli blieben hier, zogen innerhalb Berlins noch mehrmals um und wurden dann schließlich 1941 deportiert und 1942 in Chełmno, Kulmstadt, ermordet.“
Die Vergangenheit der eigenen Familie
Ein Schicksal, dem Boris Schumatskys eigener Vater knapp entkommen ist. Der Schriftsteller liest:
„Nora wusste nicht, dass Papa am ersten Abend seiner Flussfahrt einen rötlichen Schimmer am Horizont sehen wird, den ersten Luftangriff auf Moskau. Sie wusste nicht, dass die Wehrmachtsoffiziere bald die ersten Häuser der Stadt mit ihren Feldstechern erkennen werden. Nur noch ein Tagesmarsch und sie würden in Moskau sein. Papa ist noch zu klein, um ohne seine Eltern zu reisen. Nur durch Zufall kam er auf dieses Schiff, eigentlich hätte er in Moskau bleiben sollen. Und wenn die Deutschen die Stadt besetzt hätten, wäre er dort gewesen.“
Nach 20 Minuten ist die Lesung vorbei, das Treffen an den Stolpersteinen der Blaukopfs noch nicht. Nachbarn sprechen mit Autoren, Ältere mit Jüngeren. Es geht um die Vergangenheit der eigenen Familie und die NS-Zeit in der Literatur. Hier bleibt die Erinnerung lebendig. Und genau das sei ja wohl das Ziel der Aktion, meint einer der Zuhörer:
„Finde ich eine tolle Idee, also so Brücken zu schlagen zum NS, und dann noch an den Stolpersteinen, die ja gerade dazu anregen sollen, dass man da noch mal drüber nachdenkt. Das hat was Positives, wenn auch Leute, die keinen direkten Zugang zum NS haben, sich dazu äußern können und äußern.“
Deutschlandfunk Kultur – Länderreport
05.11.2021 13:33 Uhr