Video Johannes von Plato
Wo:Anklamer Str. 33, 10115 Berlin
Wann:Dienstag, 27.09.2022, 19:00

Assia Gorban und Alexandru Bulucz

Stolperstein in der Anklamer Str. 33

Heinz Bibergeil wurde am 4. Juni 1911 in Berlin geboren. Er war der Sohn eines jüdischen Arztes, der 1916 zum Protestantismus konvertierte. Heinz Bibergeil verbrachte seine Kindheit in Berlin und besuchte dann das Gymnasium in Waldsieversdorf bei Buckow. Nach der Schulentlassung wollte er Drogist werden, doch eine beginnende psychische Erkrankung änderte sein Leben grundlegend. Er kam für vier Jahre in eine Heilanstalt in Stettin, wo er dem sogenannten Erbgesundheitsgesetz von 1934 zum Opfer fiel und sterilisiert wurde. Sein Vater brachte ihn dann in der Lobetaler Anstalt in der Nähe von Berlin unter. Dort wurde er bis 1938 als Arbeiter auf den Gütern der Inneren Mission der evangelischen Kirche in einer Gärtnerei beschäftigt und wurde gleichzeitig betreut. Er fand dort Freunde und Liebhaber zugleich. „Schon in meiner frühesten Jugend hatte ich nur Gefallen an einem Mann“, äußerte er später. Nach einem Aufenthalt in einem evangelischen Jugendheim in Berlin 1939 – und in seinem Wohnort Anklamer Str. 33 – kam er Anfang der 1940er Jahre nach Eberswalde, wo er durch Vermittlung der evangelischen Kirche eine Anstellung als Arbeiter bei der Firma Hoffmann & Motz fand, bis er wegen seiner Männerbekanntschaften aus Lobetal Anfang 1942 verhaftet wurde. Seine Angehörigen, die ihn im Gerichtsgefängnis Eberswalde besuchten, trafen auf einen abgemagerten, kranken und verzweifelten Sohn, der als Jude schlechte Verpflegung bekam und dem eine kaum beheizte Zelle zugewiesen worden war. Zum Strafverfahren kam es nicht mehr. Heinz Bibergeil wurde der Gestapo ausgeliefert, die ihn Anfang Oktober 1942 in das Berliner Sammellager in der Großen Hamburger Straße einlieferte. Am 14. Oktober 1942 wurde er mit dem „44. Osttransport“ nach Auschwitz ins Vernichtungslager deportiert und ermordet.

Andreas Pretzel und Sabine Krusen, Quelle

Mein Überleben. Von Assia Gorban

Der vollständige Bericht von Assia Gorban, geb. Klurfeld, als Video und als Text unter diesem Link

(…) Einen Monat oder zwei Monate später brachte das Radio den Befehl, alle Juden unserer Stadt sollten auf den Platz kommen, der den Namen Lenins trug, den Leninplatz. Wir kamen hin. Wir sollten alles mitnehmen, was man zum Leben brauchte, so hatten wir es verstanden. Wir nahmen mit, was wir hatten, aber wir waren sehr arm, wir hatten fast nichts. Das brachten wir zu diesem Platz. Als wir dort standen, wurde um den ganzen Platz herum Stacheldraht aufgespannt, und wir durften keinen Schritt raus machen, nicht zum Markt, nicht in den Laden. Ob in der Sonne oder im Regen, wir blieben auf diesem Platz, ein paar Monate lang.

Aber meine Mutter, das versteh ich jetzt, war eine Heldin. Sie setzte ein Kopftuch auf, denn wir waren keine Juden mit langen Nasen, mit schwarzen Haaren, wie man Juden eben malt. Wir sahen aus wie die ukrainischen Menschen, die Mutter mit dem Kopftuch und ich. Sie schlüpfte unter dem Stacheldraht, allein oder mit mir zusammen, und wir gingen auf den Markt. Nie ist uns etwas passiert. Wir tauschten das, was wir noch hatten, ein Stück Seife gegen Kartoffeln oder Brot. So lebten wir zwei oder drei Monate dort, dann hörten wir wieder einen Befehl im Radio: „Achtung, Achtung!“, dieses Wort kann ich bis heute nicht hören, und das Wort „Jawohl!“ auch nicht. Diese beiden Wörter! Dann sagte das Radio, wir sollten alle zum Hauptbahnhof gehen. Es waren zwei Kilometer zu Fuß, und als wir dort angekommen sind, brachte man uns zu einer offenen Bühne, wir sollten uns einreihen. Unten warteten schon ein deutscher Offizier, ein rumänischer Offizier und eine Dolmetscherin auf uns, eine Russin, die sehr gut Deutsch konnte.

Abtransport

Wer Gold, Silber, Wertgegenstände habe, befahl der deutsche Offizier, soll sie zu seinem Tisch bringen. Meine Mutti trug einen Ring, wie alle Frauen damals. Diesen Ring hatte ihr ihre Mutter gegeben, also sagte sie, nein, ich gebe ihn nicht weg. Sie flocht den Ring in ihren großen Zopf, steckte ihn wieder hoch und sagte, „Sei jetzt still, sie haben gar nichts gesehen. Wir saßen also da, in starker Julisonne, nein, es war wahrscheinlich schon August, und wir warteten. Hitze, nichts zu trinken, kein Essen. Dann kam ein Zug, aber kein normaler Passagierzug, ein Zug für Tiere, mit kleinen schmalen Fenstern oben, mit einer Tür, breit wie ein Tor, auf jeder Seite. Man öffnete es auf unserer Seite, befahl, „Schnell! In die Waggons!“. Also stiegen wir ein, und das Gepäck, das wir noch dabei hatten, stellten wir ab an der gegenüberliegenden Wagenseite, wo sonst? Der Zug fuhr los. (…)

Fortsetzung und Video von Assia Gorbans Bericht unter diesem Link

Gedichte von Alexandru Bulucz

Das Gedicht „Vom Dnister zum Südlichen Bug u. zurück“ entstand aus der Recherche über das Überleben von Assia Gorban, das achtteilige Langgedicht „Abschied von Vater“ wurde nach einer Reise nach Rumänien geschrieben.

Vom Dnister zum Südlichen Bug u. zurück


… nach einem Lebensbericht von Assia Gorban, geb. Klurfeld


Es beginnt mit dem Radio,
die Stimme vermeldet Soldaten,
Soldaten erscheinen,
sie spielen Musik.

Es schießen Gewehre,
die Wachhunde bellen,
am Bahnhof flicht Esther, die Aster,
das Erbe ins Haar: ihren Ring.

Die Kartoffeln, die Köchinnen
Wachmännern schälen …,
es bläht sich der Dünnbeiner Hungerbauch auf,
die rösten dann Schalen zu Chips.

Auf der Mauer die Kirschen von dort,
u. von hier eine Kugel ins Fleisch,
u. am Boden dann Blut
mit dem Blut aus den Kirschen.

Die Flucht aus dem Sumpf in den Sumpf,
u. die Retter, die Blutegelbeine,
das Laufen
zum Unkrautgezupfe für Lohn,

u. es finden sich Säcke
mit Zucker, mit Graupen, mit Mehl
neben Toten in Räumen,
auch Rosenthals irdene Schüssel liegt dort.



Abschied von Vater


In den 1941 von Rußland zurückeroberten Provinzen Bukowina und Bessarabien gingen die Rumänen mit größter Härte vor. Hier folgten sie nicht dem üblichen Muster, die Juden zu konzentrieren und anschließend an die Deutschen auszuhändigen; statt dessen wurden die Juden der Bukowina und Bessarabiens in den rumänischen ‚Osten‘ transportiert, d. h. in das von den Rumänen besetzte ‚Transnistrien‘ (in der Sowjetukraine). In diesem Gebiet, genauer gesagt im Raum Odessa und Golta, töteten die Rumänen, wie wir bereits erfuhren, etwa 150000 einheimische Juden. Außer Deutschland war kein anderes Land in Judenmassakern solchen Ausmaßes verstrickt.
Raul Hilberg

I

Es war so weit,
ich befand mich nicht mehr in Vaters Garçonnière,
sondern schon im Flur des Blocks.
Wir standen einander gegenüber,
er in seiner Einzimmerwohnung,

zwischen zwei insignifikanten Gemälden an den Außenwänden,
deren eines ich seit meiner Kindheit kenne
u. das mit ihm aus unserer alten in seine neue Bleibe wanderte,
fast unter dem vierarmigen Deckenventilator
mit demselben Provenienzschicksal.

Uns trennte die Türschwelle.
Vom Balkon hinter ihm flutete Licht an ihm vorbei das Zimmer
u. drang bis zu mir in den Flur herüber.
Vater stand im Gegenlicht.
Der entstandene Lichtsaum betonte seine ergrauten, drahtigen Haare.

Die Züge in seinem Gesicht wurden unkenntlich
durch die Verdunkelung.
Im Nachhinein muss ich an alte Zeichentrickfilme für Kinder denken
wie „Tom and Jerry“,
in denen die Köpfe der Menschen weggeschnitten blieben,

weil nichts von den Tieren ablenken durfte.
Vater war also eine Vatergestalt schlechthin.
Vater war der allgemeine Vater ohne Eigenschaften,
eine psychoanalytische Projektionsfläche,
individuell unterdeterminiert u. überindividuell überdeterminiert.



II

Wie Vater sich gleich von mir verabschieden würde,
würde anders sein als sonst.
Bisher folgte der Abschied einem altbekannten Muster.
Jedes Mal, wenn ich zu ihm fuhr o. flog
u. dann Zeit des Abschiednehmens war,

wiederholte sich seine Urszene,
in der die Abschiedsform gar keine Rolle gespielt hatte.
Was sich in all den Jahren wiederholte,
war der Abschied eines Vaters von seinem jugendlichen Sohn,
es war das Abschiedstrauma selbst, das sich wiederholte.

In all den Jahren schien die Welt für Vater wie stehengeblieben.
Ich war ihm Fiktion,
auch wenn mein Körper u. mein Intellekt weiterwuchsen.
Es ist, als hätte er in all den Jahren an jener Schizophrenie gelitten,
aufgrund derer John Nash sich Charles, Marcee u. Parcher herbeiphantasiert

in „A Beautiful Mind“.
Erst durch eine Erkenntnis findet Nash einen Umgang mit seiner Erkrankung.
Er kommt in einer Schlüsselszene zu der Einsicht,
dass das Kind Marcee nicht älter wird, also Fiktion ist:
„Marcee can’t be real. She never gets old.“

Wie Vater sich gleich von mir verabschieden würde,
würde mir zeigen, dass er eine Umgangsform gefunden hatte
mit unserem Abschiedstrauma.
Er war zu der Einsicht gekommen,
dass ich älter werde u. in meiner Endlichkeit keine Fiktion bin.

Die kranke, kümmerliche Gestalt von Vater,
der seine linke Hand fast nicht mehr gebrauchen kann,
weil er sie nach einem Sturz im Suff, so die Erzählung, nicht behandeln ließ,
verabschiedete sich von mir,
indem sie alle noch vorhandene Kraft ihres kaputten Körpers zusammennahm

u. den noch funktionierenden rechten Arm stramm zum Hitlergruß streckte.
Plötzlich war ich nicht mehr das Kind
eines Ungarn u. einer Rumänin, sondern der Deutsche,
u. dem Deutschen würde noch heute die unheilvolle Geste des Holocaust anhaften,
schien mir Vater sagen zu wollen.



III

Im Türrahmen u. Gegenlicht war Vater
mit seinem fast unbeweglichen linken Arm
u. seinem zum Hitlergruß gehobenen rechten Arm
eine Kopie von Hitler
mit seinem vom Tremor befallenen linken Arm

u. seinem …



IV

Gottwerdung in der Garçonnière

Bei Vatern gewesen, der teerigen Bettstatt
er niemals mehr fremdgehen wird,
der Beweger bewegt sich kaum noch,
der Vervollkommnung nah.



V

Vater: der totale Integrator
ohne eine Ahnung von dem Weg meiner Integration.
Die Urszene unseres Abschiedstraumas verdrängte

bei jeder telefonischen u. persönlichen Begegnung
die Möglichkeit eines Gesprächs auf Augenhöhe,
denn die Fiktion des jugendlichen Sohnes wurde von Vater nicht für voll genommen,

u. meine Muttersprache brach währenddessen immer weiter in sich zusammen,
so dass ich mich nur noch in einer stark gebrochenen Muttersprache mit ihm unterhalte,
in der ich den Gründen meiner Wut auf seine Provokation nicht gerecht werden könnte.



VI

Kannte Vater Kafkas „Brief an den Vater“
u. wusste er, dass wenn ich den ersten Buchstaben aus dem Titel löse, das „B“,
Vaters u. meine Geschichte erzählt ist,
dass auch er zum Subjekt wird,
wenn ich nach der Lösung des „B“ auch das „den“ leicht modifiziere?

… rief an den Vater.
… rief an der Vater.

Dass die telefonischen Gespräche auf keiner Augenhöhe,
die seit unserer Trennung für unsere Trennung herhalten,
sich auf die Annahme der Anrufe reduzieren,
in der Hoffnung,
dass der jeweils andere noch nicht gestorben ist?



VII

Wusste Vater von dem Bericht
der „Internationalen Kommission zur Erforschung des Holocaust in Rumänien“
u. wie häufig das verächtliche rumänische Wort „jidan“, also „Itzig“,
dort zitiert werden musste?

Wusste er, dass „Tiktin“, das Standardwerk der Rumänistik,
im Kontext des Worts „jidan“ schon 1911
die ebenso verächtliche rumänische Redewendung anführte
„iss beim Juden u. schlafe beim Armenier
(bei jenem ist die Küche, bei diesem das Bett rein)“?

Wusste er von den langen Vorlauf des rumänischen Antisemitismus,
der Anfang der Vierzigerjahre ganz sicher nicht vom Himmel fiel?


VIII

Pinocchio rückwärts


Es war vor der Pandemie, als ich zum ersten Mal von dem Bild hörte. Darauf sei ein Mensch zu sehen, der den Hitlergruß zeige. Sicher fiel auch der Name des Künstlers, ich merkte ihn mir nur nicht. Das Bild faszinierte mich: Das Format führe den Inhalt ad absurdum, gebe ihn der Lächerlichkeit preis, hieß es. Im Nachhinein stellte ich fest, dass es sich um eine ganze Reihe solcher Bilder – Fotos und Gemälde – handelt. Sie stammen von Anselm Kiefer. Der zum Hitlergruß ausgestreckte rechte Arm auf einem der Gemälde reicht bis zur Rahmung.


Es erinnert mich an ein Spiel meiner Kindheit:
Man streckte den rechten Arm zu einer Wand,
hielt ihn rechtwinklig zu ihr, sie berührend,
eine Zeitlang in Stellung,

man winkelte ihn dann rechtwinklig nach hinten an,
tippte des rechten Oberarms Unterseite mit der linken Hand an
u. streckte denselben Arm wieder zur Wand.
Die Pointe: den Spielkameraden beweisen,

dass sich der Arm währenddessen verkürzt hatte.
Die „Verkürzung“ des Arms ging zurück
auf eine unmerkliche Bewegung der rechten Schulter nach hinten.
Wer das nicht wusste, staunte nicht schlecht.

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