Video Natalia Mikhaylova
Wo:Märkisches Ufer 20, 10179 Berlin
Wann:Donnerstag, 16.09.2021, 18:00

Alexandru Bulucz

Stolpersteine · Drei Gedichte · Gespräch

Stolpersteine am Märkischen Ufer 20

Hedwig Abraham wurde am 10. Januar 1861 in Berlin geboren. Über ihre Jugendjahre ist nichts bekannt. Ab Mitte der 1930er Jahre wohnte sie im Haus Märkisches Ufer 20 (ehem. Hausnr. 22) im Bezirk Mitte. Das Haus gehörte der Abraham’schen Erbengemeinschaft. Es wohnten dort noch, als Verwalter, der Kaufmann Richard Abraham sowie eine Witwe C. Abraham. Hedwig Abraham lebte bis zu ihrer Deportation im Jahr 1942 in sehr bescheidenen Verhältnissen. Sie hatte eine Schwester, die in England lebte.

Hedwig Abraham wurde zunächst ins Sammellager in der Großen Hamburger Straße 26 gebracht und von dort am 10. September 1942 mit dem „61. Alterstransport“ über Hamburg nach Theresienstadt deportiert. Dort starb die 81-Jährige am 28. November 1942.

Bürgerverein Luisenstadt e. V. Quelle

Heinz Rosenberg gehörte zum Berliner Arbeiterwiderstand und war in der Saefkow-Jacob-Bästlein-Organisation aktiv. Er wurde am 20. Juni 1912 in Berlin geboren, war im Arbeitersportverein „Fichte“ und arbeitete bis 1933 als kaufmännischer Angestellter. Seine Wohnung befand sich in Mitte, Märkisches Ufer 20. Nach 1933 konnte Rosenberg seinen kaufmännischen Beruf nicht mehr ausüben und schlug sich als Fensterputzer durch. Seine fünf Geschwister sind in den 1930er Jahren emigriert. Er selbst lebte seit 1942 unangemeldet in einem Laden, den sein Freund Siegfried Forstreuter ihm in der Neuköllner Hermannstraße angemietet hatte. Illegale Papiere besorgte ihm seine Bekannte Lucie Beltz, in deren Wohnung er als Untermieter einige Zeit gelebt hatte. Lucie Beltz arbeitete auf dem Polizeiamt Mitte und hatte Zugang zu entsprechenden Formularen und Stempeln.

© Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

In der Widerstandsorganisation war er mit Sicherheitsfragen befasst, war am Versand von Soldatenbriefen beteiligt und besorgte Legitimationspapiere für andere Untergetauchte. In seinem Laden versteckte er einen Abziehapparat und Papier für die Herstellung von Flugblättern sowie Feldpostadressen. Auch einen Koffer mit Fahrradmantel, Farbe und Farbrolle, den er von Franz Jacob bekommen hatte, bewahrte er eine Zeitlang dort auf. Der Fahrradmantel war mit einer Parole aus Gummibuchstaben versehen, die beim Fahren auf die Straße übertragen werden sollten. Am 6. Juli 1944 wurde er festgenommen. Wie alle verhafteten Juden wurde auch er nicht vor Gericht gestellt. Seit 1942 gab es eine Vereinbarung zwischen dem Reichsjustizminister O. G. Thierack und dem Reichsführer-SS Heinrich Himmler, die regelte, dass festgenommene Juden ins Konzentrationslager eingeliefert werden. Rosenberg wurde ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiertund dort am 20. Februar 1945 auf Befehl des Reichssicherheitshauptamtes erschossen.

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Quelle

Drei Gedichte von Alexandru Bulucz

Die Gedichte „Lieber Klaus“ und „Lieber Unkel Paol“ stammen aus dem Gedichtband „was Petersilie über die Seele weiß“ (Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2020), das Gedicht „Stolperworte“ entstand im Rahmen des gleichnamigen Projekts.

Stolperworte. Seine – Seine. [ˈzaɪ̯nə] – [ˈzɛːnə]

I
Drei Jahre lang hielt ihre Notlüge,
sie wolle den Faden nicht unnötig verschwenden,
u. sie sich die Freier vom Leib.
Tagsüber webte sie am Totentuch des Laertes’,
nachts dröselte sie den Fortschritt wieder auf,
bis sie verraten wurde, im Fackellicht.

Es ist jetzt Nacht, auf der Terrasse ist es stockfinster,
mein Fackellicht ist ein Bildschirm u. flackert nicht,
die Helligkeit lässt sich nach Bedarf anpassen, ich dimme sie.
Ich muss niemandem gegenüber zu einer Notlüge greifen,
ich muss nicht fürchten, verraten zu werden,
es ist nur einfach so, dass ich häufig nachts arbeite.

Verspürt ihr nicht auch manchmal den Drang,
etwas rückgängig zu machen, ungeschehen?
Einer Geschichte die Schichten abzutragen
bis zum Anfang, um ihn anders zu gestalten,
auf dass er auf ein anderes Ende zuhalte, glücklicheres?
Doch ich bin vielleicht zu deterministisch veranlagt.

Ich lese vom ersten Zeugnis jüdischen Lebens in Berlin
u. denke mir, das kannst du dir wirklich nicht ausdenken:
Eine Geschichte, an deren Anfang das Weben steht!
Es heißt, den Berliner Wollenwebern wurde untersagt,
„sich bei Juden Garn zu verschaffen“.
Nein, das kannst du dir wirklich nicht ausdenken.

Es führt also ein Faden
aus dem unverkäuflichen Garn zur Kupferlegierung?!
Aber nein, gar nichts führt von dort nach da!
Der Faden ging ja verloren, u. der jüdische Garnhändler weg.
Drei Jahre lang hielt ihre Notlüge,
sie wolle den Faden nicht unnötig verschwenden.

Tagsüber webte sie am Totentuch des Laertes’,
jetzt ist es Nacht, u. ich verspüre den Drang,
das Verbot rückgängig zu machen, ungeschehen,
das unverkäufliche Garn gänzlich abzukaufen,
um es zu verzwirnen
o. durch Nadelöhre einzufädeln

o. an Majkas Webstuhl zu verweben,
indem ich die gespannten, durch Litzenaugen geführten,
wie auch immer gehobenen o. gesenkten Kettfäden
mit den Schussfäden verkreuze,
auf dass auf einen glücklicheren Stoff zuhalte
das Gewebe, irgendwo am Lietzensee …

II
Leg den Riegel vor: Es/ sind Rosen im Haus./ Es sind/ sieben Rosen im Haus./ Es ist/ der Siebenleuchter im Haus. Paul Celan: „Wolfsbohne“

Ich las, Rosenberg Senior habe eine Leinenweberei geleitet,
u. dachte mir, das kannst du dir wirklich nicht ausdenken:
Wieder eine Geschichte des Webens!
Ich nahm an, es gäbe auf dieser Welt einen einzigen Rosenberg
Junior mit dem Vornamen u. Schicksal, u. überlas die Lebensdaten.
Doch mein Heinz überlebte nicht, anders als sein Namensvetter,

man weiß kaum etwas über seine Eltern, er war älter als jener,
wurde nicht wie jener in Göttingen geboren, sondern in Berlin,
schaute nicht wie jener auf die Grone, sondern auf die Spree.
Ich betrachte mithilfe des Kartendienstes eines Onlinegiganten
die Straßenansicht am Märkischen Ufer,
ich fokussiere die Kastenfenster des Altbaus, dann die Eingangstür.

Ob eines ihrer früheren Schlösser ein solches war
für Berliner Schlüssel, frage ich mich.
Ich besitze nämlich einen, für Alt-Tegel 6.
Er hat, ob des Schließzwanges, zwei identische Bärte.
Nach Aufschließen des Schlosses schiebst du den Schlüssel hindurch
u. ziehst ihn auf der anderen Seite nach Schließung wieder heraus.

Einen Steinwurf entfernt – die Inselbrücke über die Spree.
Ihre steinernen Gewölbe steigen wie Regenbogenspiralen (Slinkys)
meine Kopfstufen hinunter zu den metallenen Schuhen am Ufer der Donau
u. zur Seine: „Mutter, ich/ bin verloren“, schrieb, der später in sie ging.
Wo finde ich die Sprungstelle, wo die Kupferlegierung,
frage ich mich, an seiner letzten freigewählten Stätte?

Der Gedanke daran, wie bis heute in vielen nachwirkt,
was am Haupttor von Buchenwald prangt, lässt dich zusammenfahren,
wie aus dem „Jedem das Seine“ soz. ein „Jedem seine Seine“ wurde:
Bruno Bettelheim, Primo Levi, Jean Améry, Paul Celan, Peter Szondi …
„Wir sind gerettet, aber wir sind nicht befreit“, steht auf einer Wand
im Wollheim-Memorial für die Opfer von Buna/Monowitz …

Steffen u. Stefan lauteten meines Kaufmann-Heinzens Kryptonyme
im Arbeiterwiderstand der Saefkow-Jacob-Bästlein-Organisation.
Die gab illegal die Zeitschrift Die Innere Front heraus,
während sich welche in die innere Emigration begaben.
Nach Berufsverbot putzte er Fenster, vielleicht Kastenfenster.
Ein Unangemeldeter, Illegaler,

Versender von Soldatenbriefen, Beschaffer von Legitimationspapieren
für Untergetauchte (u. als Untergetauchter mit welchen bedacht
durch eine beim Polizeiamt Berlin-Mitte tätige Stenotypistin)
u. der Verstecker eines Abziehapparats u. von Papier
für die Herstellung von Flugblättern u. Feldpostadressen
sowie eines Koffers mit Fahrradmantel, Farbe u. Farbrolle.

Der Bund der Antifaschistinnen u. Antifaschisten berichtet,
der Reifen sei mit Gummibuchstaben bespickt gewesen,
welche beim Fahren eine Parole hinterlassen sollten.
Der gutaussehende Kaufmann-Heinz mit dem freundlichen Gesicht
u. den etwas abstehenden Ohren wurde im Sommer 1944 festgenommen
u. zwei Monate vor der Befreiung von Sachsenhausen

daselbst ums Leben gebracht …

Lieber Klaus,

ich wünschte, der Band hieße Helligkeitshunger. Der Ausdruck,
er stammt von – ich führe den Namen nicht unnütz im Munde.
Das Huldigungsveto der inneren Stimmen! Ist das nicht ein Wink
mit dem Zaunpfahl, den Titel zu lassen? Ich höre schon Dietrich

erbost aus der Ferne monieren: Kein Meter den Nebenaltären
für Menschenverehrung!
Ich bin für gewöhnlich ganz Ohr.
Jetzo bin ich im Krieg mit dem Selbst, drin Debatten entbrennen,
sich Funken von Feuern entfernen, die Geister sich scheiden daran.

Ich versuche im Ernst, IHN hinauszubeschwören. Ich bitte dich, sorglos
zu sein! Doch es will nicht gelingen. ER schrieb für SEIN Leben
so gern über fächelnde Farne. Gedächtnis entfarnen? Das wär’s! Wie
ein Schnitt in das eigene Fleisch, eines Luftzugs Verneinung. Du fragst dich ganz sicher, ob ich IHN versteh’ überhaupt. Zählt Erkenntnis-
gespür zum Verstehen, was ohn’ Präzedenz? Wenn ich’s wüsste!
Die inneren Stimmen befehlen: Du machst dich nicht klein! Nein,
ich bin es in nuce, u. nähm’ ER mich plötzlich ans Herz, ich verginge

Lieber Unkel Paol,

die Kältin macht sich wieder breit, sickert langsam, aber sicher ein
in Ackerschollen u. andere Wunden, die ollen.
Die Kältin macht einen auf Stechimme, sie sticht immer
tiefer den Spaten, den mit dem Widerhaken, in frostige Böden u. andere Öden.

Ihr spätnovembriges Gestichel löst Kältekopfschmerz aus.
Du Schütze, dein Monat ist eine kaltschnäuzige Ernte.
Der Sommer hatte uns so lange im Schwitzkasten, dass Lots Frau
Lotte bei diesem Temperatursturz aus allen Himmeln die Kinnlade runterfällt

an dem vor drei Jahrhunderten aufgestellten, aber als Stele
nach oben sich leicht verjüngenden preußischen Meilenstein
am Schloss Tegel, mit vom Regen unkenntlich gemachter Angabe
u. vom vielen Schleifen von Äxten u. Sensen entkanteten, nein:

zu verkennenden Kanten, von wo aus die wilden Bolde Willy u. Alex
durch Welten trampten u. so weit kamen, wie sie Hummeln im Hintern hatten,
die in See stachen, u. ihre Katzensprünge machten – zu den zwei dicken Maries,
als da wären die Köchin des Schlosses u. eine Rieseneiche an der großen Malche,

wobei die eine der anderen den Namen gab o. umgekehrt die andere der einen
in Selbstähnlichkeit von Taille u. Brusthöhe, wiewohl in aller Wahrscheinlichkeit
keine von der anderen wusste,
nicht von der Köchin die Eiche, die bald tausendjährige, wie die einen schätzen,

u. die Köchin nicht von diesem Exemplar des fast deutschesten aller Bäume,
was für die anderen feststeht,
dass selbst ein Alter von 350 Jahren reichte, um eine Zeitgenossin gewesen zu sein
der Dronten, deren eine Dörte, Traute o. Droste hieß.
Ja, die dicke Marie muss nicht bald tausendjährig sein,
um auch andere Kältinnen erlebt zu haben
als die, die ich heute hier mir ihr teile: des Tegeler Sees Tripelpunkt,
an dem Eis u. Wasser zu Wasserdampf verdampfen u. Eis zu Wasser schmilzt,

während Wasser gefriert u. Wasserdampf zu Wasser kondensiert u. als Eis ausfriert –
im Kampf sich anbibbernder Aggregatzustände um thermodynamische Balancen
zu trippeln – u. Doppelkonsonanten Doppelkorn nachschütten,
der wiederum nicht unterscheiden kann

zwischen langen u. kurzen Vokalen, zwischen Siegfrieds Schrottcollageengel
für Hannah, den er als archaischen Erz-Engel bezeichnet,
um an die Erze zu erinnern, daraus einige seiner Materialien gewonnen wurden,
um die hohe Stellung seines Engels in der Hierarchie der schieren Schar

doppelt abzusichern, denn doppelt gesharet hält besser,
u. ich kann sie zu dieser Uhrzeit weiß Gott nicht auseinanderhalten,
den Pleonasmus u. die Tautologie, zwischen Siegfrieds Schrottcollageengel,
der in der Verlängerung der Gabrielenstr. als ein Gabriel durchgeht

aus Holzbohlen, Planken u. metallenen Räderwerken,
mit Flügeln aus Teilen eines Bootsrumpfes,
eines Schwimm- u. Flugfähigkeitsgaranten zugleich
zwischen Siegfrieds Schrottcollageengel

an der großen Malche, der auf den Tegeler See blickt,
auf dem Siegfried u. Hannah eisliefen, als er zugefroren war,
für meine Begriffe im Begriff, für meine Gefühle im Gefühl,
sich mit ganzer Kraft abzustoßen

bei dem Gedanken an die Degeneriertheit einer Zeit,
in der Kunst als entartet galt
zwischen dem Engel der Geschichte, der so aussehen muss
wie Siegfrieds Engelsschichten für Hannah,

u. dem Tegeler Gefängnis,
in dem Dietrich seine berühmten Briefe schrieb u. an Dankbarkeit u. Reue
dachte, die uns unsere Vergangenheit immer gegenwärtig halten,
während du, lieber Unkel, im Arbeitslager bei Buzău im Straßenbau malochtest

an der großen Malche, wo es im Restaurant am See,
anders als im Gulag, Gulasch gibt, zwischen all dem u. euch dreien am Tripelpunkt,
die ihr eines zerbrochenen Kruges Scherben von Schergen seid,
zerstreute Funken mit Furunkeln,

u. schrieb nicht Primo vom Beginn des Todes bei den Schuhen?
Dass dicke Füße niemals loszuwerden seien
im Lager, dem regalen? Liegt es auf der Hand:
Der Tod beginnt bei den Furunkeln, lieber Unkel,

Edith fällt mir ein, die Petze:
Du hättest bei dem Kaffeekränzchen mitgesungen
das Arbeiterlied Brüder, zur Sonne, zur Freiheit,
das Hermann aus ’nem Lager im Ural ins Deutsche brachte.

Unkel, bist du ein Towarischtsch
im Spätherbst u. mit allem, was dazugehört,
der Uschanka auf den Ohren, die dann langzuziehen wären,
den Bokantschen an den Füßen, die dann bleiern wirkten,

mit genug Okroschka, Borschtsch u. Schtschi für dich u. die Genossen?
Allein, dein Getreide leuchtet nicht u. leuchtete noch nie.
Auf dem Felde körpern sie, die Halme, nur herum,
weder Sinn noch Sense, nur der Mann mitohne Sinn,

der zeigt, wohin der Gerste u. der Hirse, wohin des Roggens u. des Weizens
Ähren (quasi als Vektoren) zeigen,
der zeigt zur Erd’ nach unten, dann zeigt er auch zu Knochen-, Ähren-Diemen,
die auch Tristen heißen, die auch Diemen dimmen. Da liegt es sich eng.

Tegel u. Frankfurt im November u. Dezember 2018,
Rainer René Mueller zum 70.


Alexandru Bulucz im Gespräch mit Boris Schumatsky

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