Die Stolpersteine in der Alexanderstraße 17 erinnern an Wilhelm und Erna Zadek, ermordet 1943, und an Else Schäfer, ermordet 1942. Das Wenige, was über ihr Leben bekannt ist, greifen Katerina Poladjan und Henning Fritsch in ihrem Prosatext auf.
Gleis Siebzehn
Von Henning Fritsch und Katerina Poladjan
Elise Schäfer, geboren am 29. Mai 1870 in Fürstenberg. Deportiert am 7. August 1942 nach Theresienstadt, dann am 26. September des gleichen Jahres nach Treblinka. Ermordet in Treblinka.
Erna Zadek, geboren als Erna Schäfer am 02. November 1893 in Berlin. Deportiert am 17. Dezember 1942 nach Theresienstadt, dann am 23. Januar 1943 nach Auschwitz. Ermordet in Auschwitz.
Wilhelm Zadek, geboren am 9. November 1890 in Magdeburg. Deportiert ebenfalls am 17. Dezember 1942 in das Ghetto Theresienstadt, von dort am 23. Januar 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz. Ermordet dortselbst.
Ich fange noch mal an.
Elise Schäfer wurde am 29. Mai 1870 in Fürstenberg an der Havel im Norden Brandenburgs geboren. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren war sie nach Berlin gekommen. Sie bekam ein Kind, ein Mädchen. Erna.
Zur Jahrhundertwende war Erna sieben Jahre alt.
Mehr weiß ich nicht.
Erna wuchs heran und eines Tages heiratete sie Wilhelm Zadek. Wilhelm war drei Jahre älter als sie.
Mehr weiß ich nicht.
Ich weiß nicht, ob Erna und Wilhelm im Berlin der zwanziger Jahre tanzen gingen, ob Elise ihren Schwiegersohn mochte, ob es eine Notlösung war, dass alle drei in der Kaiserstraße 24 lebten oder eine glückliche Fügung.
Darf ich mir ihr Leben vorstellen? Darf ich ihre Namen ausstaffieren mit Bildern vom Berlin der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, wie ich sie aus Filmen und Büchern kenne? Darf ich die Wände ihrer Zimmer mit gemusterten Tapeten bekleben, einen Tisch aus Nussbaum hineinstellen, darauf eine weiße Decke mit geklöppelten Borten legen? Ich weiß es nicht.
1942 lebten Elise, Erna und Wilhelm in der Kaiserstraße 24. Ob sie dort eine gemeinsame Wohnung teilten, weiß ich nicht. Aber ich finde heraus, dass die Straße nicht nach einem deutschen Kaiser benannt wurde, sondern nach dem russischen Zaren Alexander I., nachdem er mit seiner Kutsche hindurchgefahren war.
Beim Berliner Landesarchiv finde ich Karten des Gebiets, eine von 1910, eine weitere aus dem Jahr 1940. Wo sich heute die Jacobystraße zwischen Wohnblocks windet, verbindet in diesen Karten die Kurze Straße in preußisch-rechten Winkeln die Kaiserstraße mit ihrer nördlichen Parallelstraße, der Elisabethstraße.
Die Kaiserstraße führte geradewegs zur Alexanderstraße. Das Haus Nummer 24 stand auf der Ecke zur Kurzen Straße, und aus manchen Fenstern muss man das gewaltige Polizeipräsidium gesehen haben, eines der größten Gebäude der Stadt, nur hundert Schritte entfernt. Rote Burg wurde es genannt, zunächst Sinnbild preußischer Obrigkeit und Repression, dann ab 1933 Machtzentrum und Folterkerker der Gestapo. Es erhob sich genau an der Stelle, wo jetzt das gewaltige Einkaufszentrum steht. Wiederum in Rot.
Im alten Stadtplan suche ich Wege, die nicht daran vorbeiführen. Über Landsberger Allee und Kurze Straße war es vom Alexanderplatz aus kein großer Umweg nach Hause. Aus Richtung Jannowitzbrücke musste man allerdings einen ziemlichen Bogen schlagen und über die Magazin- und die Schillingstraße von Osten her dreiviertel der Länge der Kaiserstraße durchlaufen. Wenn Elise Schäfer, Erna Zadek oder Wilhelm Zadek es eilig hatten, mussten sie wohl oder übel an der Roten Burg vorbei.
Im Rücken des Hauses Kaiserstraße 24 lag der Friedhof der Dom-Gemeinde, im Plan von 1910 ist er (obwohl laut einer anderen Quelle seit 1880 geschlossen) als BEGRBN. PL. D. DOM GEMEINDE markiert, im Plan von 1940 heißt das Gelände schlicht Domhospital. Direkt gegenüber der Kaiserstraße 24 – im Hof der Gebäude auf der südlichen Straßenseite – ist im amtlichen Plan von 1910 eine Synagoge verzeichnet. Im Plan von 1940 ist der Gebäudeumriss unbeschriftet.
Ich gehe die Jacobystraße entlang. Die Häuser hier wurden vermutlich in den fünfziger oder sechziger Jahren errichtet. Zu dieser Zeit könnten die Reste des Hauses von Elise Schäfer, Erna und Wilhelm Zadek Teil des Teufelsbergs im Grunewald geworden sein. Jahrelang luden dort täglich hunderte Lastwagen Schutt und Trümmer von zerbombten Gebäuden ab, was den Haufen zur zweithöchsten Erhebung des Berliner Stadtgebiets machte, und man ihn ab 1972 zum Schlittenfahren nutzen konnte.
1942 war kein Schaltjahr, es hatte dreihundertfünfundsechzig Tage. Es begann und es endete mit einem Donnerstag.
Am 7. August des Jahres 1942 wurde Elise Schäfer deportiert.
Ich fahre zum Bahnhof Grunewald, bin die einzige an diesem trüben Herbstabend, die das Gleis 17 entlanggeht.
Ich lese die Inschriften an der Bahnsteigkante, finde den Transport am 7. August 1942: 100 Juden / Berlin – Theresienstadt. An diesem Bahnsteig hat Elise Schäfer gestanden, denke ich, sie war zweiundsiebzig Jahre alt. Das Laub ringsum war grün. Wahrscheinlich war es laut, wahrscheinlich lag Stimmengewirr in der Luft und Geschrei. Vielleicht aber herrschte für einen Moment auch eine seltsame Stille, und Elise konnte Vögel hören, die in den Zweigen sangen.
Die Bäume, so habe ich gelesen, die in das Gleisbett gepflanzt sind, sollen symbolisieren, dass von diesen Gleisen nie wieder ein Zug abfahren wird. Ich schaue den Weg der Schienen entlang, eiserne Geraden, zwingend in ihrer Parallelität, die hier nicht ins Unendliche führen, auch nicht ins Nichts; sie hören nach wenigen Dutzend Metern einfach auf, sind vom Schienennetz abgetrennt. Dort, wo die Gleise in lockeres Buschwerk führen, steht ein Schild: Bahnanlage – Befahren und Betreten durch Unbefugte verboten. Dann in Rot: Zuwiderhandlungen werden nach der Eisenbahnbetriebsverordnung geahndet. Dann wieder in Schwarz: Bei Schnee und Eis wird nicht geräumt und nicht gestreut.
Später werde ich mich wieder in alte Karten vertiefen, um den Verlauf der Gleise zu verstehen. Sie führten geradewegs nach Westen, wo jetzt ein Neubaugebiet entlang der Hilde-Ephraim-Straße entstanden ist, dann vorbei am Halensee. Eine letzte Aussicht auf das Strandbad, dann eine Weiche, die die weitere Richtung bestimmt.
Südlich der Gedenkstätte Gleis 17 in Richtung Trabener Straße ist der Ort durch einen fast vier Meter hohen, blickdichten Zaun begrenzt, und unwillkürlich frage ich mich, ob sich die Bewohner der dahinterliegenden Villen vor den Blicken der Besucher der Gedenkstätte schützen, oder ob der Zaun die Anwohner vor dem Blick auf das Mahnmal schützen soll.
Zwischen dem Zaun und dem Bahnsteig Gleis 17 befindet sich ein großer geschotterter Parkplatz. Am Rand ein Streugut-Container, ein schwarzglänzend lackierter Anhänger von Fatzke-Racing – Powered by EuroConcept. Auf eine Seite des Anhängers ist ein Motorradfahrer in grellbunter Airbrushtechnik aufgemalt, todessehnsüchtig legt er sich in die Kurve. Sonst ist der Parkplatz leer. Im Bereich der Auffahrt lese ich weitere Schilder: Bitte Motor abstellen. Nur mit Parkkarte. Feuerwehrzufahrt. Halteverbot nach StVO. Ein- und Ausfahrt Tag und Nacht freihalten. Betreten bei Schnee und Glätte auf eigene Gefahr.
Ich kehre zurück zum Gleis und finde die Inschrift, die auf den Transport von Erna und Wilhelm Zadek hinweist: 17.12.1942 / 100 Juden / Berlin – Theresienstadt. Vielleicht lag an diesem 17. Dezember schon Schnee. Vielleicht war der Bahnsteig vereist und glatt. Kälte drang durch die Sohlen.
Die Markierung liegt ziemlich genau gegenüber der Stelle, wo in meiner Vorstellung Elise Schäfer ein halbes Jahr zuvor stand, weil dort ihr Transport verewigt ist, nur ein Sprung über die Gleise entfernt und unendlich weit weg. Unerreichbar – Die Zeit zwischen zwei Atemzügen, schreibt Nelly Sachs. Und an anderer Stelle über die Ermordung des geliebten Menschen im Konzentrationslager: “Wenn ich nur wüsste, worauf dein letzter Blick ruhte. War es ein Stein, der schon viele letzte Blicke getrunken hatte, bis sie in Blindheit auf den Blinden fielen?”
Hundertzweiunddreißig Tage und Nächte lagen zwischen dem 7. August und dem 17. Dezember 1942, dem Tag, an dem Erna Zadek ihre Mutter verlor und jenem, an dem sie selbst und ihr Mann abgeholt wurden. Wie viele Nächte hat sie in diesen vier Monaten wachgelegen? Gab es trotz allem Momente der Sorglosigkeit? Zuckte Erna jedes Mal zusammen, wenn Wilhelm sie sanft an der Schulter berührte? Ging der Alltag mitleidlos weiter? Sonntag um Montag, Mittwoch um Samstag, Dienstag um Freitag. Gedehnte, irrwitze Zeit. Zuhause sitzend, den Rücken zur Tür, zur Welt, zum Tageslicht. Draußen, was es auch sein mochte, die Luft, mit offenen Toren.
Konnte Erna Zadek irgendwie wissen, dass ihre Mutter nicht viel länger als einen Monat in Theresienstadt blieb, bis man sie von dort nach Treblinka transportierte und ermordete? Konnte sie noch hoffen, ihre Mutter wiederzusehen?
Am 2. November feierte Erna Zadek ihren neunundvierzigsten Geburtstag. Ich will mir einen sonnigen Herbsttag vorstellen, einen Tag, der sich nicht entscheiden will, eiskalt und warm zugleich.
Ein Tag, an dem man das Gesicht zur wärmenden Sonne wendet und dabei über kalte Zehen klagt. Wehmütig denkt man an den ewigen Sommer zurück und fürchtet schon die Ewigkeit der Kälte im Winter. Und gewiss hoffte Erna, dass sie das Grauen, das um sie herum war, das mit der gewaltsamen Entführung ihrer Mutter in ihr Haus, ihre Wohnung eingebrochen war, überleben würde. Vielleicht hoffte Erna Zadek, dass ihre Mutter noch lebte.
In der Zeitung lese ich ein Interview mit der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer. “Sie dürfen nicht vergessen, dass wir damals auch nicht wussten, was genau passierte”, sagt sie da. “Wir wussten, dass viele weggekommen waren und dass niemand zurückgekommen war, aber nicht viel mehr.” Im selben Gespräch sagt sie auch: “Es hieß ja immer ‘In den Osten’. Und man hat nicht gewusst, was der Osten ist.”*
Heute wissen wir, was sich hinter der unschuldigen Bezeichnung einer Himmelsrichtung verbarg, über Elise Schäfer, Erna Zadek und Wilhelm Zadek, weiß ich nur, was auf diesen Steinen steht.
Sechs Wochen nach Erna Zadeks neunundvierzigstem Geburtstag, hundertzweiundreißig Tage nachdem ihre Mutter verschleppt worden war, sieben Tage vor Heiligabend, wurden sie und Wilhelm abgeholt und nach Theresienstadt deportiert. Am 23. Januar 1943 nach Auschwitz. Ermordet in Auschwitz.
* Margot Friedländer: “Ich bin nicht bitter”. ZEITmagazin Nr. 44/2021
Katerina Poladjan im Gespräch mit Boris Schumatsky