Video Natalia Mikhaylova
Wo:Kleine Hamburger Str. 5, 10115 Berlin
Wann:Donnerstag, 07.10.2021, 18:00

Sandra Gugić

Stolpersteine · Literarischer Essay · Gespräch

Stolperstein in der Torstraße 176

Ferdinand James Allen wurde am 13. Juli 1898 in Berlin geboren. Er war das zweitälteste der sechs Kinder des Schwarzen Britischen Musikers James Cornelius Allen aus Liverpool und seiner Frau, der Berlinerin, Lina Panzer. Über die nächsten 40 Jahre wohnte die Familie Allen an mehreren Adressen in Berlin-Mitte. Die Kinder, einschließlich Ferdinand, besuchten die lokale Schule. Aber 1914, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs konnte er keine Lehrstelle finden, und es scheint, dass er hauptsächlich als Hilfsarbeiter beschäftigt war.
Die Kriegszeit hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Familie: Ferdinands Vater James war wahrscheinlich karibischer Abstammung und als solcher ein britischer Untertan. Deshalb wurden erst James, dann Ferdinand und schließlich ebenfalls der jüngere Bruder Robert (auch ein Musiker), als sogenannte „zivile feindliche Ausländer“ im Kriegsgefangenenlager auf der Pferderennbahn in Ruhleben inhaftiert. Zu Spitzenzeiten betrug die Zahl der Internierten über 4.200, darunter etwa 100 Männer afrikanischer Abstammung aus dem britischen Empire, meist aus Westafrika oder der Karibik. Sie waren größtenteils, aber nicht ausschließlich, Matrosen. In Ruhleben wurden aber auch mehrere in Deutschland lebende Schwarze Menschen gefangen gehalten – sie waren Kaufleute, Kellner, Türsteher oder Künstler wie James sowie deren in Deutschland geborenen Kinder wie Ferdinand und Robert.
Nach dem Waffenstillstand verließen Ende November 1918 die letzten Internierten das Lager Ruhleben. Ferdinand und sein Bruder Robert kehrten zu ihrer Mutter und den Geschwistern zurück, die jetzt hier in der Torstraße wohnten. Es ist unklar, ob James, der Vater, mit dabei war. Er starb um 1918/19 an einem Herzinfarkt. Auch Ferdinands Aufenthalt in diesem Haus war nur von kurzer Dauer.Am 24. November 1920 wurde Ferdinand nach einem epileptische Anfall in die Städtische Anstalt für Epileptiker in Wuhlgarten eingeliefert. Im Asylaufnahmeprotokoll gab Ferdinand an, seit etwa zwei Jahren an Anfällen zu leiden; an anderer Stelle wurde jedoch berichtet, dass er bereits als Kind epileptische Anfälle hatte. Die Anstalt wurde für die nächsten zwanzig Jahre Ferdinands Zuhause. Seine Patientenakte gibt nur flüchtige Einblicke in sein Leben in Wuhlgarten. Schon bald nach seiner Aufnahme klagte er über rassistische Übergriffe und es gab immer wieder Spannungen mit anderen Patienten. Anfang der ‘30er-Jahre nahm er Gesangsunterricht, vielleicht inspiriert durch die Tatsache, dass seine Geschwister, wie vor ihnen ihr Vater, ihren Lebensunterhalt als Musiker und Artisten verdienten. Ferdinand durfte oft, manchmal bis zu ein paar Wochen, nach Hause gehen, um seine Mutter und seine Familie zu sehen. Ich glaube, er war gerne zuhause.
Als die Nazis an die Macht kamen, wurde das Leben für viele Schwarze Menschen in Deutschland prekär. 1945 sagte Ferdinands Schwester Josie: „Berlin war in Ordnung, bis Hitler kam… Danach verschwanden viele Schwarze Menschen.“ Vor allem ab 1935, mit der Einführung der Nürnberger Rassengesetze und mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, verschlechterte sich die Lage für Schwarze Menschen, die noch in Deutschland lebten, dramatisch.
Wie einige andere Schwarze Deutsche, gingen auch drei der inzwischen Erwachsenen Allen-Kinder (Robert, Helen und Willi), aufgrund der steigenden rassistischen Diskriminierung, ins Exil. Ferdinand, der in der Anstalt in Wuhlgarten festgehalten wird, wurde im Januar 1935 aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Krankenhaus Neukölln sterilisiert. In den frühen ‘40er Jahren wurde auch seinem Neffen, wie vielen anderen jungen Schwarzen Deutschen, die Sterilisation angedroht, als die Nazis versuchten, den Fortbestand einer Schwarzen deutschen Bevölkerung zu verhindern. Er konnte den Nazis entkommen.
Details zu Ferdinands letzten Lebensjahren sind rar. Seine Hausbesuche scheinen ab 1935, nach dem Tod seiner Mutter im April 1935 abrupt eingestellt worden zu sein, und der Kontakt zu seinen Geschwistern wurde stark eingeschränkt. Die Akten zeigen, dass Ferdinand in den letzten Monate in Wuhlgarten arbeitete. Am 31. Oktober 1940 wurde er zur Heilanstalt Teupitz gebracht und am 14. Mai 1941 in die „Euthanasie“-Anstalt Bernburg versetzt. Dort wurde Ferdinand am selben Tag im Rahmen des T4-Euthanasieprogramms der Nazis ermordet. Er ist einer von mehreren Schwarzen Deutschen, die in Nazi-Anstalten starben. Alle Allen-Kinder litten sehr unter dem Nazi-Regime – zwei starben im Exil (Robert und Helen), Ferdinand wurde in Berlin Opfer der Politik der Nationalsozialisten. Aber die Schwestern Josie und Emma und ihr Bruder Willi haben diese Zeit überlebt.

Robbie Aitken, Quelle

Stolpersteine in der Kleinen Hamburger Str. 5

Max Gross, geboren 03.04.1873 in Zempelburg (Westpreußen) / Sępólno Krajeńskie. Deportation am 27.11.1941 nach Riga. Ermordet am 20.11.1941 in Riga-Rumbula.

Emma Gross, geboren 11.08.1880 in Tuchel (Westpreußen) / Tuchola. Deportation am 27.11.1941 nach Riga. Ermordet am 30.11.1941 in Riga-Rumbula.

Leo Gross, geboren 28.02.1925 in Berlin-Mitte. Deportation am 27.11.1941 nach Riga. Ermordet am 30.11.1941 in Riga-Rumbula.

Hans Gross, geboren 28.02.1928 in Berlin-Mitte. Deportation am 27.11.1941 nach Riga. Ermordet am 30.11.1941 in Riga-Rumbula.

Lieselotte Gross, geboren am 27.06.1934 in Berlin-Mitte. Deportation am 27.11.1941 nach Riga. Ermordet am 30.11.1941 in Riga-Rumbula.

Über Max, Emma, Leo, Hans und Lieselotte Grossist bisher wenig bekannt. Emma und Max waren vermutlich Eltern oder Großeltern von Leo, Hans und Liselotte, die im Alter von 16, 13 und 7 Jahren deportiert wurden.
Im September 1941 hatte Adolf Hitler entschieden, die deutschen Juden in den Osten zu deportieren. Das zunächst als Zielort vorgesehene Ghetto Minsk konnte schon bald keine Verschleppten mehr aufnehmen. Darum wurden weitere Züge nach Riga umgeleitet.
Aber auch das kurz zuvor eingerichtete Ghetto von Riga war überfüllt und konnte die Deportierten aus Deutschland nicht aufnehmen. Die Nazis beschlossen, im Rigaer Ghetto „Platz zu schaffen“.
Am 30. November 1941 wurden etwa 15.000 einheimische Juden des Ghettos in ausgehobenen Gruben in den nahen Wäldern von Rumbula erschossen. Schon am Morgen dieses Tages hatte ein Transportzug aus Deutschland mit 1.053 Berliner Juden Riga erreicht, und sie wurden die ersten Opfer, die im Kieferwald von Rumbula ermordet wurden. Darunter Max, Emma, Leo, Hans und Lieselotte Gross.

Quelle Wikipedia

Unweit

Ein Essay von Sandra Gugić

Ich bin 13 Jahre alt und wir machen die obligatorische Exkursion, die alle Gymnasiast*innen in Österreich an der Schwelle zur Oberstufe machen: Wir besuchen die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Im Versuch der Rekonstruktion des damals Gesehenen kann ich rückblickend nicht sicher sagen, ob die Bilder Fragmente aus Geschichtsbüchern, Filmszenen und Berichten sind oder aus meiner Erinnerung. Woran ich mich erinnere: Während der Führung ist die Klasse ungewöhnlich konzentriert, in angespannter Stille. Auf den Gedenktafeln mit den Namen der Ermordeten zähle ich die slawischen Namen, die Endungen mit IC – und verzähle mich.

Die Stille der Klasse hält an bis zu einem Kippmoment auf der Rückfahrt im Bus, ich erinnere mich nicht an den Auslöser, nur daran, dass eine überdrehte Heiterkeit ausbricht, ein Lachen, das alle ansteckt und anhält. Die begleitenden Lehrpersonen sind empört über unser Benehmen.

Wir haben im frontalen Geschichtsunterricht Daten und Jahreszahlen aus der NS-Vergangenheit gelernt, wir haben die Worte NIEMALS VERGESSEN wieder und wieder gehört. Wir haben nicht über unsere Gegenwart und Tatsachen gesprochen: Unsere Familien waren Täter. Oder Opfer. Dazwischen liegt die Mitschuld, die Leerstelle, das Schweigen. Die Vergangenheit, die nicht bewältigt wird.

Meine Familie kommt weder aus Österreich noch aus Deutschland. Meine serbische Herkunft schließt die unmittelbare Täter*innenschaft meiner Vorfahren weitgehend aus. Als Heranwachsende bin ich eine, der die Vorstadtnazis auf dem Rummelplatz vor die Füße spucken. Aber auch wenn ich auf keine unmittelbar Schuldigen – sprich Nazis – zeigen kann, die meinen Nachnamen tragen, so bin ich nicht weniger betroffen und bin ich nicht weniger verwoben in das Netz aus Verantwortung und Gegenwartsbewältigung.

„Kritik ist Liebe“, sagen die Künstlerin Moshtari Hilal und der Essayist Sinthujan Varatharajah, es ist Februar 2021, der Satz fällt in einem Instagram-Gespräch, in dem sie das materielle Erbe des Nationalsozialismus und dessen Kontinuitäten analysieren. Sie verwenden den Begriff Nazihintergrund auch als Entgegensetzung für den Begriff Migrationshintergrund und markieren damit, so Varatharajah „einen Teil der Gesellschaft, der sonst ständig und völlig selbstverständlich andere markiert“. Ihre Kritik traf unter anderem auch den Kulturbereich und sorgte in ihrer Gesamtheit und Radikalität für großen Zuspruch ebenso wie für Empörung darüber, dass unter vielen genannten auch ein Berliner queerfeministischer Buchladen in die Kritik kam. Bei der Besitzerin der Buchhandlung She said, Emilia von Senger, fand diese Kritik immerhin Gehör und ein Echo der konstruktiven Auseinandersetzung. Kritik ist Liebe. Kritik im Sinne von Sichtbarmachung in einer gelebten solidarischen Praxis bedeutet eben auch Auseinandersetzung und damit unangenehme Wahrheiten transparent zu machen und Verantwortung zu übernehmen. Solidarität ist auch, wie wir mit unserer Verantwortung umgehen.

Der Solidaritätsbegriff ist untrennbar verbunden mit dem Identitätsbegriff. Wie wir uns selbst in der Welt verstehen und Raum oder Gehör verschaffen können, macht aus, wem gegenüber wir solidarisch agieren, wen wir in unseren Kreis der Solidaritätsbedürftigen und Solidaritätswürdigen aufnehmen. Kategorien wie Herkunft, soziale Identität und Genderidentität prägen uns. Es ist den Versuch wert, diese Basisidentitäten durch das Verlassen unserer Selbstverständlichkeiten und unserer Komfortzone zu überprüfen. Seit ich darüber nachdenken und die Begriffe im Ungefähren erfassen konnte, habe ich von Gerechtigkeit und Solidarität geträumt, von einer Gemeinschaft, die zusammenhält. Als nicht privilegiertes Ausländer*innenkind war das meine Utopie, ein Sehnsuchtsort. Aber die Gesellschaft, wie ich sie erlebte, war eine geschlossene und meine Möglichkeiten schienen mir mehr als eingeschränkt. Sollte ich in meiner Außenseiterinnenposition verharren, sollte ich mich möglichst anpassen oder stattdessen zornig werden und aufbegehren? Oder sollte ich mir gleiche und ähnliche Kompliz*innen suchen? Aber wie sollte diese Gleichheit beschaffen sein?

Ich wachse im niederösterreichischen Schwechat auf. Als ich ein kleines Kind bin, sind meine Eltern als Hilfsarbeiter*innen in der dortigen Brauerei beschäftigt. Viele der alten Kellereien liegen verlassen, kalte hohe Räume, sie werden zum Set eines Kurzfilms, bei dem ich viele Jahre später – mit 18 – einen meiner ersten Jobs, die Kostümausstattung mache. Die Szene, die wir dort drehen, spielt in einem Club, ich erinnere mich an hölzerne Dialoge und Kunstnebel. Jahre später erst lerne ich, was der Schulunterricht ausgelassen hat, dass 1944 und 45 in den Kellereien der Brauerei Zwangsarbeiter*innen für die Flugzeugindustrie eingesetzt wurden. Auch am Wiener Flughafen erinnert ein vergessener und vor den Augen der Öffentlichkeit verborgener, weil auf privatem Gelände befindlicher Gedenkstein daran, dass hier ein Außenlager von Mauthausen war, Schwechat-Heidtfeld, wo Flugzeugteile für den sogenannten „Volksjäger“ der Heinkel-Werke hergestellt wurden. Kommandant war SS-Hauptsturmführer Anton Streitwieser, ein berüchtigter Massenmörder. Das Lagerareal wird heute als Parkplatz genutzt, es ist der gleiche Mazur-Parkplatz, zu dem ich in den Ferien manchmal mit einer Freundin hingeradelt bin, nur um ihn zu umkreisen und wieder umzukehren, weil mein erster Teenagercrush im Sommer dort jobbt. Ich träume von einem ersten Kuss, der sich nicht erfüllen wird.

Ich erinnere mich an das Jesuskreuz aus Holz, damals, im Klassenzimmer direkt über der Tafel, in mein Erinnerungsbild hineinzentriert und direkt daneben, wahrscheinlich rechts davon, immer das Bundespräsidentenfoto. Erst blickte Bundespräsident Rudolf Kirchschläger auf mich hinunter. Auf das Ausländerkind, das sich (irgendwann, später) dachte: So eine Sprache beherrschen und mit der Sprache eine Geschichte und mit der Sprache aus der eigenen Geschichte (und darüber) hinaus denken. Dann 1986, als Konstante das Jesuskreuz, nur das Bundespräsidentenfoto wechselte auf das Gesicht von Kurt Waldheim. Der Waldheim, der von nichts wusste, sich an nichts erinnern konnte, weil ja nicht er von 1942 bis 1944 bei der Wehrmacht war, sondern nur sein Pferd. Das mit den alternativen Fakten konnten die Österreicher schon lange vor Trump & Co. Jetzt erst recht!wurde zum solidarischen Wähler*innenschlachtruf für die Unschuldsvermutung des Pferdes, nein, des Waldheims.

Ich lese den Anfang einer Arbeit über den postmodernen Konflikt bei Elfriede Jelinek und Bunuels „Würgeengel“ von Aline Venneman: „Zivilisation und Barbarei schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie müssen als Zwillingsphänomen gleichen Ursprungs betrachtet werden.“

Ich bin 14 Jahre alt und wechsle an eine künstlerische Schule nach Wien, verlasse das Gymnasium in der leblosen kleinen Stadt in der Hoffnung auf neue Perspektiven, auf eine andere Welt, die sich teilweise erfüllen. Manchmal schwänze ich und flaniere durch die Stadt. Im zweiten Bezirk gibt es eine orthodoxe jüdische Community, manchmal begegne ich Einzelnen oder Familien, kleine Kinder auf Rollern, Frauen, deren Blick durch mich durch geht, Männer mit ernstem, verschlossenem Ausdruck. Ich bin neugierig und neige dazu, Menschen sehr direkt anzuschauen. Ist mein Blick unangebracht, starre ich sie an? Ich weiß wenig über ihr Leben und ihre Rituale, erfasse nur das Äußerliche: die Kleider und Perückenfrisuren, die Hüte und Mäntel der Männer. Was ich im Geschichtsunterricht gelernt habe, sind gesichtslose Zahlen, 1938 gab es in Wien eine blühende jüdische Gemeinde mit fast 200 000 Menschen, heute – nach Vertreibung und Ermordung – sind davon vielleicht 8000 geblieben.

Ich erinnere mich an einen Podcast und eine Stimme die sagt: The Germans have a special word for this: Vergangenheitsbewältigung, which is untranslateable, a topic which is very German.

Ich bin 29 Jahre alt und arbeite in einem Grafikbüro. Wir gestalten den Ausstellungskatalog zu RECOLLECTING, es geht um Kunst- und Alltagsobjekte aus jüdischem Eigentum und deren Geschichte zwischen Raub und Restitution. Und während ich Seite für Seite setze und gestalte, beschäftige ich mich das erste Mal mit dem Thema, erfahre Details über die NS-Bürokratie des Raubes und deren Kontinuitäten in der österreichischen Restitutionspolitik seit 1945, lese Sammlungsgeschichten, Familiengeschichten. Schlage nach zur Praxis der Gegenwart, zu aktiver Erb*innensuche und Provenienz- oder Herkunftsforschung, stolpere über den schiefen Begriff der „Wiedergutmachung“ und über Leerstellen, diese unerträglichen Leerstellen.

Jemand schreibt, das 20. Jahrhundert sei eine Zeit der Extreme und des einbrechenden Bösen gewesen. Was wird einmal über das 21. Jahrhundert gesagt werden? Welche Bilder werden bleiben?

Ich bin 44 Jahre alt, es ist August 2021, und lande mit meiner Familie am Flughafen Ben Gurion. Wir sind keine Tourist*innen, wir kommen, um zu bleiben, für ein paar Jahre soll Tel Aviv unser Zuhause werden. Wir freuen uns auf das Ungewisse, sind optimistisch, hoffnungsvoll. Was ich über Israel weiß, ist scheinbar viel. Bald werde ich begreifen, dass ich nichts weiß.

Im September stolpern wir in unser Ankommen wie auch durch die bedeutenden jüdischen Feiertage. Ankommen bedeutet zu lernen, zu scheitern und ist eine Übung in Geduld. Wir beginnen da, wo der Kopf des Jahres sitzt, Rosh (der Kopf) Hashana, das Jahr 5782 beginnt mit Challot und Äpfeln in Honig, auf der Strandpromenade ertönen die Klänge der Schofar.

Zeitgleich in Deutschland wirbt die AfD im Wahlkampf mit dem Slogan „Deutschland. Aber normal“ für ihren Einzug in den Bundestag. Auf ihren Plakaten steht „Integration braucht Leitkultur“ und „Wohin wir wollen? Zurück zur Normalität“. Von welcher Normalität kann hier die Rede sein? Der Normalität einer Partei, die unter anderem den Holocaust verharmlost?

Ich lese, dass der Ausbruch von Gewalt oft ausgelöst werde durch biografisches Scheitern. Durch eine „Innere Unsicherheit“ also. Oder durch das Erschüttern der „Inneren Sicherheit“. Die Projektion kollektiver rückwärtsgewandter Sehnsüchte, Ängste, Nostalgien.

Der Anschlag auf eine Synagoge in Halle liegt zwei Jahre zurück, im Oktober 2019, an Jom Kippur versucht ein Attentäter schwer bewaffnet in eine Synagoge einzudringen, es misslingt ihm, er tötet daraufhin scheinbar beliebig zwei Menschen, verletzt zwei weitere. Wäre der Täter nicht gescheitert, wäre es zu einem der schwersten antisemitischen Anschläge der deutschen Nachkriegsgeschichte gekommen.

Der rechtsextreme Terrorakt von Hanau ist erst ein Jahr her, im Februar 2020 wurden neun Menschen aus Hanau, die der Täter als „nicht-deutsch“ einstufte, ermordet.

Stelle ich Schicksale in eine Reihe und in Beziehung zueinander, die zu weit auseinanderliegen? Die Kontinuität und Wiederholung von Gewalt und rechtsextremen Terror ist deutsche Realität. Was schließt unsere gelebte Erinnerungskultur ein oder aus, wie setzt sie sich fort in der Gegenwart? Der Holocaust ist dabei keinesfalls zu relativieren. Es geht um die Pluralisierung von Erinnerungskultur, die Opfer der Vergangenheit und ihre Geschichten sind verbunden mit den Opfern der Gegenwart. Und mit der Frage, wie all diese Opfer zu vermeiden wären.

Im Beton deutscher Städte liegen die Stolpersteine von Tausenden Opfern der Nazis, über 70 000 sind es in ganz Europa.

Die Stolpersteine von Max, Emma, Lieselotte, Hans und Leo Gross, ermordet 1941, liegen hier in der Kleinen Hamburgerstrasse 5. Max und Emma waren Eltern oder Großeltern von Leo und Lieselotte, die im Alter von 16 und 7 Jahren deportiert wurden.

Der Stolperstein von Ferdinand James Allen, ermordet 1941, findet sich in der Berliner Torstrasse 176, unweit, ungefähr sieben Gehminuten von hier.

Er gehört als Schwarzer Deutscher zu einer Gruppe von NS-Opfern, die in der deutschen Erinnerungskultur bisher wenig Beachtung bekommen haben. Sein Stolperstein wurde kürzlich, im August 2021, gesetzt.

Ich bin ein talking head auf einem Monitor. Digitale Lesungen sind praktisch und einsam zugleich, sie machen es mir möglich, da zu sein, wo ich nicht bin, ohne Tel Aviv zu verlassen, wo ich von meiner Familie gebraucht werde. Von meinem Kind, das, in eine neue Welt und Sprache geworfen, sich morgens beim Abschied im Kindergarten an meinen Hals klammert. Auch ich versuche Hebräisch zu lernen. In meinem Schreiben bin ich immer wieder auf der Suche nach einer Sprache. Ich sammle und ordne die roten Fäden meiner eigenen Geschichte und Auseinandersetzung, um sie darüber hinaus zu spinnen. Ist es möglich, die Geschichte in der Gegenwart zu heilen?

Zerheilt ist der Name einer aktuellen Ausstellung im jüdischen Museum, ein fotografischer Essay des Künstlers Frédéric Brenner. Berlin wird darin zum Hintergrund diverser und zugleich sehr individueller Inszenierungen des Jüdischseins, die der Künstler mit den Porträtierten gemeinsam entwickelt hat, zwischen Vergangenheitsbewältigung und dem Wunsch nach Erlösung. „Identität ist eine Fiktion“, sagt der Künstler im Interview. „Meine Arbeit ist auch ein Ringen mit meiner eigenen Geschichte, ihren Gespenstern, mit dem, was verschwiegen wurde, mit dem, was sich verbarg […]“. Der Ausstellungstitel ist ein Zitat von Paul Celan, der über einen seiner Aufenthalte in der Psychiatrie schrieb „Sie haben mich zerheilt!“. 

Ich schaue mir selbst zu, wie ich versuche, die Widersprüche in meinen auseinanderstrebenden Gedanken zu bündeln, eine These zu finden, und doch im Fragmentarischen bleibe, einer Suchbewegung zwischen persönlichen Unterstreichungen, wie ich Wegmarken setze an Begebenheiten, die mich bewegt haben und über alle Leerstellen hinweg in Bruchstücken sich eine Landschaft behauptet.

Dem jüdischen Kalender zufolge hat das Jahr 5782 und darüber hinaus ein Schabbatjahr oder Schmitta-Jahr begonnen, ein Brachjahr, in dem weder gepflügt, gesät, bewässert (was in einem Land mit so wenigen Regentagen schwierig sein wird) noch gedüngt werden darf. Geerntet darf nur werden, was ohne menschliches Zutun wächst. Ich lese, dass die jüdische Ethik besagt, dass wir unser Tun auf dem Fundament von Verantwortung, Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit ausrichten sollen, statt die Grenzen der Machbarkeit immer mehr auszuweiten. Wir blicken zurück auf einen Sommer der Überschwemmungen und Brände und wissen mehr als uns lieb ist. Wir wissen, was noch vor uns liegen könnte. Und trotzdem.

Es war einmal eine Gesellschaft aus Täter*innen und Opfern. Es war einmal eine Maschinerie der Gewalt. Es bleiben Unaussprechlichkeit, Verschweigen und Verharmlosung, es bleibt die nachgestellte Ausrede der Pflichterfüllung. Es bleibt die Verantwortung und die Schuldigkeit auszusprechen und auszusprechen und wieder auszusprechen und mit der Sprache eine Geschichte und mit der Sprache aus der eigenen Geschichte (und darüber) hinauszudenken.

Wir, unsere Familien können wieder Täter*innen werden. Oder Opfer. Dazwischen liegt die Mitschuld, die Leerstelle, das Schweigen. Die Gegenwart, die zu bewältigen sein wird.

2021

Sandra Gugić im Gespräch mit Boris Schumatsky

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